Mülheim. Was die Malerei des Mülheimer Künstlers Eberhard Ross mit den Klavierimprovisationen von Keith Jarrett verbindet. Der Jazzmusiker wird heute 70 Jahre alt.

Der 8. Mai ist im Bewusstsein der Bevölkerung als Ende des Zweiten Weltkrieges verankert. Aber es gibt ein Ereignis an diesem Tag, das mit einer ganz anderen Art von Freiheit verbunden ist, der freien Improvisation. Die freie Improvisation auf dem Klavier, ohne Melodie - ein Solo, das wie aus dem Nichts entsteht. Diese Kunst beherrscht Keith Jarrett, der heute 70 Jahre alt wird, wie kein Zweiter. Im Gegensatz zu Louis Armstrong, der nachträglich seine Biografie mit dem symbolträchtigen Datum 4. Juli 1900 frisierte, ist es im Fall des Tastenvirtuosen, der als Siebenjähriger seinen ersten Konzert-Auftritt hatte, das authentische Geburtsdatum.

Weil er Jarrett so viel verdankt, hat der Künstler Eberhard Ross ihm ein Original geschenkt, das ab heute im reproduzierten Kleinformat tausendfach im Handel erhältlich ist. Das schlicht Speicher genannte Ölbild ziert die jüngste Produktion „Creation.“ Die ist, wie die meisten der inzwischen über 100 Aufnahmen bei dem in München ansässigen Label ECM erschienen, für das Ross seit mehreren Jahren schon Cover gestaltet hat. Jarrett soll sich das Motiv gewünscht haben, wie Ross erfahren hat. Schon das Motiv des letzten Jarrett-Albums, eine Einspielung der Sonaten für Violine und Klavier von Bach, stammt von dem Mülheimer Künstler. Auch das Album mit dem Konzert aus Rio sollte er gestalten, was sich aber dann doch zerschlagen hat.

"Jemand spielt meine Bilder"

„Es gibt Tage im Atelier, da merke ich, es wird zäh“, erzählt Ross. Dann hört er Jarrett, etwa die Sun Bear Concerts. Der Rhythmus der Musik setze dann auch etwas in ihm in Gang und der Malprozess beginnt.

„Es ist bisher drei Mal passiert, dass ich den Eindruck hatte, jemand spielt meine Bilder“, sagt der 56-jährige Ruhrpreisträger. Dass es einen engen Zusammenhang zwischen Musik und Malerei gebe, sei schon seit Schönberg und Kandinsky bekannt. Und es gebe auch das Phänomen der Synästhesie, dass Menschen, etwa die Pianistin Helene Grimaud, Farben mit Klängen assoziieren, also tatsächlich „mit den Augen hören.“

Die meist verkaufte Soloaufnahme des Jazz

Es ist die pure Konzentration auf den Klang, die Ross reizt. Er versucht Klang zu malen. Die drei Musiker, die ihn faszinieren, sind neben Jarrett die buddhistische Nonne Chöying Drölma und der Koreaner Byungki Hwang. Die Musik des 79-jährigen Zither-Virtuosen hat Ross erst bei seinem dreimonatigen Aufenthalt in Seoul im vergangenen Jahr kennengelernt.

Jarrett war schon in den 60er Jahren ein Star, als Jazz-Musiker noch Stadien füllten. Er spielte bei Art Blakey, Charles Lloyd und schließlich bei Miles Davis. Weltbekannt ist Jarretts Köln Concert, das rund vier Millionen Mal verkauft wurde und damit die meist verkaufte Soloaufnahme des Jazz ist. Es entstand unter extrem widrigen Umständen auf einem indiskutablen Instrument, doch die technische Begrenzung spornte den Musiker zu kreativen Höhenflügen an. Für Ross ist diese Haltung, ein Problem oder Missgeschick auch als Chance zu sehen, ein Vorbild. Früher habe auch er immer, wenn ihm etwas missraten sei, die Leinwand wütend in die Ecke geworfen. Jetzt sieht er es eher als Anlass, mutig zu sein und etwas Neues auszuprobieren. Verlieren könne man eh nichts mehr.

Der Klang der Stille

Jarrett selbst ist auf das Konzert aus der Kölner Oper vom Januar 1975 nicht gut zu sprechen. Vermutlich ärgert er sich, dass er oft darauf reduziert wurde. Für die New York Times klang es so, als würden Art Tatum und Frederic Chopin gemeinsam in einem Kanu flussabwärts fahren. Seinem Biographen Wolfgang Sandner (das Buch erschien jüngst im Rowohlt-Verlag) sagte der Pianist, dass er im hypothetischen Fall einer Neueinspielung dieses Konzertes deutlich weniger Noten spielen würde. Jarrett ist auch kein Freund von Keyboards – die soll er bei Davis nur ungern gespielt haben.

Die Bedeutung der Pause und der Stille hat auch Ross schätzen gelernt. „Im Laufe der Jahre hat sich meine Arbeit immer wieder verändert“, erzählt er. „Sie ist dichter geworden und die Bedeutung des Zwischenraumes, der ‘Pausen’, ist immer größer geworden.“ Ihm geht es in der Musik vor allem um den Übergang zwischen Fülle und Leere, wenn ein Ton verklingt. Was im visuellen Bereich zu einem Leuchten führe. Auch in Korea haben sich seine Arbeiten weiter verändert. Sie sind noch heller geworden, leuchten noch stärker und scheinen sich im Licht fast aufzulösen. Ihre Komplexität erschließt sich aber auch erst nach dem genauen Betrachten. Erst dann fallen die nuancenreichen Farbabstufungen und das Gespinst aus Linien auf, das über der Farbschicht liegt. In ihrer formalen Strenge geht von den Arbeiten etwas Meditatives aus. Vor einigen Tagen wurde eine Ausstellung in Frankfurt eröffnet. Der Titel „Luminescence“ - Nachleuchten. Hinzu kommt ein Zitat Gertude Steins: „Halte deine Augen für Ohren“.

Den Ruf einer kapriziösen Diva

Er bedauere es, dass er als Kind nicht intensiver Klavier geübt habe, erzählt er und lacht, während er sich eine Zigarette anzündet. Einem Maler, der wie ein Einsiedler in seinem Atelier arbeite, fehle schon manchmal der Kontakt zum Publikum. Der scheint Keith Jarrett, der den Ruf einer kapriziösen Diva hat, gar nicht Recht. Dass der Pianist zuweilen das hustende und fotografierende Publikum beschimpfe und Konzerte abbreche, könne er aber bei der hohen Konzentration, die ein Auftritt erfordere, verstehen. Dass ein deutscher Minister während eines Konzertes aufstehe, um ein Erinnerungsfoto zu schießen, sei ihm dagegen völlig unverständlich.