Mülheim. . Zur Kur nach Keitum fuhren vor allem in der Nachkriegszeit unzählige Mülheimer Kinder. Bis 1996 hatte die Stadt auf Sylt ein Kindererholungsheim.

Neulich stand Barbara Heinz-May im Supermarkt und wusste: Die Kassiererin hat sich als Mädchen den Arm gebrochen. So etwas passiert ihr öfter, Begegnungen mit Erwachsenen, die sie als Kinder kennenlernte. Denn die heute 74-Jährige war, mit Unterbrechungen, von 1957 bis 68 im inzwischen verkauften und abgerissenen Mülheimer Kindererholungsheim in Keitum/Sylt beschäftigt, fing dort als Praktikantin an und war am Ende die Leiterin. Gerne denkt sie an diese Zeit zurück – und spricht noch lieber über sie. Deshalb lud sie zum Blick durch ihre Fotoalben. Und die Rückschau passt: Die Stadt kaufte das Grundstück vor 90 Jahren.

1925 entdeckte der Mülheimer Stadtmedizinalrat Garstens beim Urlaub auf Sylt den leer stehenden Ruhesitz eines jüngst verstorbenen Kapitäns und regte den Kauf an. Der Mülheimer Rat stimmte zu und die Stadt erstand 36.000 m² Inselgrund — inklusive Wohnhaus, Strandabschnitt, Wiesen und Tannenwäldchen. Die Einweihung, so lässt es sich im Mülheimer Stadtarchiv nachlesen, folgte 1926. Bis 1937 betreuten Erzieherinnen in dem Heim rund 4800 erholungsbedürftige Mülheimer Kinder, dann übernahm die NSDAP es. Im Krieg waren dort Angehörige der Wehrmacht untergebracht. Anschließend nutzte die Awo Kiel das Gebäude, bis Richter das Grundstück wieder der Stadt Mülheim zusprachen. 1951 eröffnete Mülheims Kindererholungsheim im Norden.

"Über Keitum kann ich immer sprechen"

Für sechs Wochen fuhren Vier- bis 14-Jährige zur Kur auf die Insel unter – damals im Ruhrgebiet ja gerüchteweise noch vermisstem – blauen Himmel. 55 Kinder kamen in drei Gruppen, getrennt in Jungen, Mädchen und kleine Kinder, unter.

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Sechs Wochen Keitum – viele Mülheimer verbrachten ihre Sommerferien auf Sylt und hatten neben dem Sonnenbrand oft auch mit Heimweh zu kämpfen.

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Betreut wurden sie in den 1960er Jahren u.a. von „Tante Barbara“. Barbara Heinz-May, die während ihrer Ausbildung zur Kinderpflegerin nach Keitum kam und letztlich 1967 als Diplom-Sozialpädagogin die Leitung übernahm, nennt ihre Zeit auf der Insel „herrlich“ und meint das „privat und dienstlich“. Fotoalben voller Erinnerungen kann sie vorzeigen und erzählen: davon, wie sie „zum ersten Mal die See sah“, vom Sonnenbaden samt Sonnenbrand, der weißen Küchenwand, von Kapitän Groot, der den Kindern ehrenamtlich Seemannsgarn erzählte, von anderen Erzieherinnen, die für Elvis schwärmten, während sie selbst die Musik von Harry Belafonte bevorzugte. . .

Noch heute fährt die Wahl-Mülheimerin, die nach ihrer Keitumer Zeit einen Sonderhort sowie später einen Sonderkindergarten in Niebüll leitete, mehrmals im Jahr gen Norden, besucht Bekannte, schwelgt in Erinnerungen. „Über Keitum“, sagt sie, „kann ich immer sprechen.“ Und das auch gerne unverhofft an der Supermarktkasse.

Heute ein Hotel

Die Einwicklung des Kindererholungsheims verfolgte dessen einstige Leiterin Barbara Heinz-May. Bis heute kann sie nicht glauben, dass Keitum die jungen Urlauber ausgegangen sein sollen. Doch veröffentlichte Zahlen verweisen auf viele leere Betten.

Der Artikel im Jahrbuch 1983 liest sich wie ein Werbetext: „Aufenthalte in Keitum führen erfahrungsgemäß zu vielen Heilanzeigen bei Nebenhöhlenkatarrhen, Bronchitis, Allergien, Asthma, Ekzemen und Appetitmangel“, heißt es dort. Vorher sind detailliert Besucherzahlen aufgelistet, die sich auf 831 addieren. Das macht „eine Auslastung von 80 Prozent“ – besser als in den 1970er Jahren, aber nicht gut genug. Die Besucherzahlen gingen in den Folgejahren weiter zurück, das zeigen im Stadtarchiv gesammelte Zeitungsartikel.

Erstmals diskutierte der Rat 1978 über den Verkauf, damals trennte man sich stattdessen vom städtischen Heim in Neuastenberg. 1996 war die Diskussion dann beendet: Die Stadt verkaufte das Keitumer Grundstück für 3,4 Millionen Mark an SWB, deren Bilanz es künftig nach unten zog. 2002 bezifferte die Geschäftsführung der Gesellschaft das jährliche Minus auf rund 450.000 Euro. Nach langen Verhandlungen verkaufte SWB das Grundstück 2003 an eine Bremer Planungsgruppe, die dort ein Fünf-Sterne-Hotel errichten wollte. Doch das ließ auf sich warten: Erst 2008 wurde das Erholungsheim abgerissen, anschließend verzögerte sich der Baustart wieder und wieder. Inzwischen kann man „Am Tipkenhoog 18“ aber wieder Urlaub machen: Dort steht nun ein Luxushotel.