Moers. Im Live-Interview nahm der Moerser Experte Dr. Voshaar Stellung zu aktuellen Fragen. Wirksamkeit der Impfstoffe und Mutationen im Vordergrund.

Nebenwirkungen und die angeblich geringere Wirksamkeit beim Astrazeneca-Impfstoff sorgten in den vergangenen Tagen für Irritationen bei vielen Impfwilligen. Dr. Thomas Voshaar, Chefarzt am Bethanien-Krankenhaus in Moers, trat dieser Skepsis in einem Live-Interview mit der NRZ am Montagabend entschieden entgegen. „Der Impfstoff wirkt in jedem Fall. Wer die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen, dem rate ich: Nehmen Sie, was Sie kriegen können!“

Der Lungenfacharzt positionierte sich in dem Gespräch mit Matthias Alfringhaus, Leiter der Moerser Lokalredaktion, und Redakteurin Anika Bloemers, bei dem NRZ-Leser ihre Fragen stellen konnten, zu aktuellen Fragen der Pandemie. Voshaar, der einer der Berater von Gesundheitsminister Jens Spahn ist, hatte sich im vergangenen Jahr mit dem „Moerser Modell“ einen Namen gemacht.

Dr. Voshaar, ein Jahr nach dem ersten Coronafall in Deutschland ist die Sorge vor den Mutationen groß. Befinden wir uns schon in einer neuen Pandemie?

Nein. Das ist falsch. Jeder, der sich mit Viren auskennt, weiß, dass sie mutieren. Das war schon zu Beginn der Pandemie klar. Wir haben damit verbunden auch immer die Hoffnung gehabt, dass das Virus so mutiert, dass es weniger ansteckend wird. Virologen, mit denen ich in Kontakt stehe, sind sich sicher, dass das Virus nicht so stark mutiert wie beispielsweise Grippeviren. Diese verändern sich sehr schnell, deswegen ist jedes Jahr eine neue Impfung nötig. Bei SARS-CoV2 gibt es nun auch Mutationen, aber nicht so rasant. Das liegt daran, dass SARS-CoV2 ein Virus mit sehr viel Erbgut ist, etwas doppelt so viel wie beim Influenzavirus.

Nun ist aber beispielsweise die britische Variante B117 definitiv ansteckender. Ist sie auch tödlicher?

B117 ist nach dem, was wir bisher wissen, ansteckungsfähiger, so dass mehr Menschen krank werden, wenn die AHA-Regeln nicht beachtet werden. Wenn grundsätzlich in allen Altersklassen mehr krank werden, also auch bei den Älteren, wird es absolut gesehen vielleicht auch mehr Todesfälle geben, eben so lange, bis die Älteren alle geimpft sind. Das Virus an sich scheint aber bislang nicht tödlicher zu sein.

Viele machen sich Gedanken darüber, welcher Impfstoff der richtige für sie ist und ob Astrazeneca sie ausreichend schützt, auch bei den Mutationen. Ist das der Fall?

Bevor ein Impfstoff bei irgendeiner Mutation gar nicht hilft, muss das Virus sich komplett verändern. Das oberste Ziel des Pandemie-Managements ist, dass keiner mehr an Corona stirbt und das vermögen diese Impfstoffe, egal von welcher Firma, alle zu erreichen. Bei Astrazeneca wird viel über die Wirksamkeit von 60 Prozent diskutiert, im Übrigen liegt aber die Wirksamkeit der Grippeimpfung nur bei 50 Prozent und trotzdem empfehlen wir diese seit Jahrzehnten, eben weil es ausreichend ist, um die Sterbefälle zu verhindern.

Auch wie die Maske richtig getragen wird, zeigt Dr. Voshaar in dem Live-Interview.
Auch wie die Maske richtig getragen wird, zeigt Dr. Voshaar in dem Live-Interview. © FUNKE Foto Services | Volker Herold

Was bedeuten diese 60 Prozent genau?

Das heißt, dass in dieser Studie 60 Prozent der Geimpften keinerlei bedeutsamen Symptome entwickelten, ein paar waren wiederum infiziert und auch leicht erkrankt. Bei den meisten Impfstoffen ist das Ziel, dass man nicht stirbt oder kritisch erkrankt. Es muss aber nicht das oberste Ziel sein, gar nicht mehr zu erkranken oder sich zu infizieren. Ich habe bei Astrazeneca überhaupt keine Sorgen, auch nicht wegen der Altersgrenze von 65 Jahren. Die wurde vor allem festgesetzt, weil Astrazeneca zu den Älteren in den Studien nicht so viele Daten liefern konnte. Diese Einschränkung, die wir in Deutschland machen, macht die Europäische Zulassungsbehörde nicht. Ganz ehrlich: Ich hätte alle, die in der obersten Altersklasse sind und das höchste Sterberisiko haben, mit allem geimpft, was zu bekommen ist.

Und solange nicht alle Älteren geimpft sind, bleiben wir im Lockdown?

Schon länger stört mich, dass es so eine flächendeckende, generelle Maßnahme wie den Lockdown für alle gibt. Das ist eine Maßnahme der Verzweiflung. Spannend ist, dass Pandemiegeschehen regional so unterschiedlich ist, die Inzidenzen, der R-Wert, die Sterberate, die Belegung in den Krankenhäusern. Dabei ist meinem Beraterteam und mir aufgefallen, dass die Inzidenzen eigentlich immer schon zurückgingen, bevor der Lockdown überhaupt wirken konnte. Denn die Cluster vor Ort reagieren sehr schnell: Das Virus verbreitet sich nach der Chaos-Theorie, aber die Cluster, also die Sozialsysteme, reagieren selbstregulierend und stabilisierend, weil sie sich schützen wollen. Das ist ein typisches Sozialverhalten des Menschen. Wenn er merkt, dass jemand im engeren Umkreis sich angesteckt hat, ist er sofort vorsichtiger, trägt seine Maske besser, meidet Kontakte.

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Geht es dabei um Lockerungen oder um einen Strategiewechsel?

Um eine alternative Strategie zum flächendeckenden Lockdown, eine wissenschaftlich sehr ernstzunehmende Theorie. Ich habe schon im April gesagt, dass ich den Begriff der Welle nicht mag, weil es immer einzelne Cluster sind. Wir glauben fest daran, dass es deswegen möglich ist, mehr lokal-regionales Pandemiemanagement zu machen als bisher.

Wie kommen wir damit auf einen Inzidenzwert unter 35?

Zu sagen, wegen der ansteckungsfähigeren Variante, müssen wir unter 35 ist in sich unlogisch. Wir sehen ja jetzt schon wie lange wir diese Art von Lockdown brauchen, um unter 100 zu kommen und Richtung 50. Wenn sich jetzt parallel der Anteil der ansteckungsfähigeren Varianten ausbreitet, dann wird die Kurve der Abflachung noch flacher werden bzw. wieder ansteigen. Mit dieser Art von Lockdown werden wir kaum unter 50 kommen und die 35 nie erreichen. Wir werden lernen müssen, mit schwankenden Inzidenzwerten zu leben. Da passt unser Konzept zu mehr regionalem Management hinein.

Gehören dazu auch mehr Schnelltests?

Ja, neben den Impfungen sind Schnelltests, die strategisch eingesetzt und etwa alle drei Tage durchgeführt werden, sehr wichtig. Bevor sie überall eingeführt werden, müssen sie da eingesetzt werden, wo Infektionen zum Tod führen, also in den Krankenhäusern, Altenheimen, Rettungsdiensten, später dann in Schulen und Kitas.