Herne. Wie tickt Deutschlands Top-Schiri? In Herne plauderte Deniz Aytekin vorm Bundesliga-Start aus dem Nähkästchen – nicht nur beim Thema Fußball.

Deutschlands Top-Schiedsrichter Deniz Aytekin wäre wohl auch in der Lage, eine durchaus unterhaltsame Fernsehshow zu moderieren, schrieb jüngst die Süddeutsche Zeitung. Beim „Bundesliga-Talk“ von Reifen Stiebling im Herner Veranstaltungszentrum Gysenberg trat der Referee am Dienstagabend den Beweis an, dass dies mehr als eine steile These ist.

„Ich fand es wunderbar“, sagte (nicht nur) Senior-Chef Christian Stiebling am Ende der knapp dreistündigen Veranstaltung. Zuvor hatte Aytekin vor rund 70 geladenen Gästen und OB Frank Dudda in einem Vortrag zum Thema „Entscheidungen unter Druck“ sowie im Austausch mit Hernes Ex-Bundesliga-Referee Thorsten Kinhöfer zum Teil tiefe Einblicke gegeben - ins harte Schiedsrichtergeschäft, aber auch in sein Leben. Einige Schlaglichter.

Deniz Aytekin (re.) traf im Veranstaltungszentrum Gysenberg auf seinen früheren Schiedsrichterkollegen Thorsten Kinhöfer (). Der 55-jährige Herner pfiff in seiner aktiven Laufbahn 213 Bundesligaspiele und leitete von 2006 bis 2013 als FIFA-Schiedsrichter auch zahlreiche internationale Partien.
Deniz Aytekin (re.) traf im Veranstaltungszentrum Gysenberg auf seinen früheren Schiedsrichterkollegen Thorsten Kinhöfer (). Der 55-jährige Herner pfiff in seiner aktiven Laufbahn 213 Bundesligaspiele und leitete von 2006 bis 2013 als FIFA-Schiedsrichter auch zahlreiche internationale Partien. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Der Antrieb

„Viele Fans glauben, dass wir Schiedsrichter werden, weil wir zuhause nichts zu melden haben und nicht Fußball spielen können“, sagte der 45-Jährige, der seit 2008 in der Bundesliga pfeift und von 2012 bis 2022 auch internationale Spiele leitete. Dem sei nicht so, sagte Aytekin und spielte einen kurzen Film vor, wie er 2017 als Schiedsrichter beim DFB-Pokalfinale mit den Teams von Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt ins Berliner Olympiastadion einlief. „Teil einer großen Fußballfamilie“ zu sein und solche Spiele zu pfeifen – das sei das, was er liebe und was ihn antreibe.

Vom internationalen Geschäft zog er sich vor einem Jahr freiwillig zurück, weil er nicht mehr komplett „fremdbestimmt sein wollte“: „Es ist mir heute mehr wert, mit meiner Tochter Eis essen zu gehen, als zum 28. Mal bei Lazio Rom auf dem Platz zu stehen.“

Das Erfolgsrezept

Die psychische Anspannung während eines Spiels sei enorm, so der gebürtige Nürnberger. Laut Messungen sei er in 82 von 90 Minuten in der höchsten Puls-Zone, „das heißt: kurz vorm Tod“. Umso elementarer sei die Vorbereitung aufs Spiel. Er habe Strategien entwickelt: Antizipation zähle ebenso dazu wie die Entwicklung von Automatismen, die Berücksichtigung von Zusatz- und Detailinformationen und nicht zuletzt die Zusammenarbeit im Team. Kriterien, die auch in Unternehmen zum Erfolg führten.

Elementar sei aber auch die Frage: „Wie schaffe ich es, Akzeptanz für meine Entscheidungen zu bekommen?“ Hier habe er zunächst einen Lernprozess durchlaufen müssen, räumte Aytekin ein. Er habe früher Situationen auf dem Platz anders geregelt, nach Perfektion gestrebt und Spieler bisweilen „wie ein Irrer“ behandelt. Er habe dann gelernt: „Wenn du aus der Kabine kommst, musst du deinen Egomantel zuvor an den Haken hängen.“

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Er nutze längst die „unheimliche Kraft des Wortes“ und begegne Spielern nun auf Augenhöhe, so der 1,97-Meter-Mann. Was offenbar honoriert wird: 2019 und 2022 wurde er zum „Schiedsrichter des Jahres“ gekürt. Mit wem kam er so gar nicht zurecht? Auf diese Frage fiel Aytekin nur der Kölner Kapitän Jonas Hector ein, der kürzlich seine Karriere beendet hat: „Ich hatte kein Problem mit ihm, aber er war so undurchsichtig und einsilbig.“

Der Wahnsinn

Prägend sei für ihn das Champions-League-Spiel Barcelona gegen Paris St. Germain am 8. März 2017. Hintergrund: Nach einer 0:4-Niederlage im Hinspiel schalteten die Katalanen um Lionel Messi das französische Starensemble durch ein 6:1 im Rückspiel aus; darunter zwei Elfmeter sowie drei Tore ab der 88. Minute. „Wahnsinn, ein völlig krankes Spiel“, sagte Aytekin. Mit dem Abpfiff sei ihm klar gewesen: „Die Lawine wird rollen.“ Es sei brutal gewesen, was insbesondere im Internet abgegangen sei.

Rund 70 geladene Gäste nahmen am „Bundesliga-Talk“ von Reifen Stiebling teil. Vor der Corona-Pandemie führte das Herner Unternehmen diese Format bereits in Haltern und Gelsenkirchen durch, damals mit Gästen wie Klaus Fischer, Werner Hansch und Olaf Thon.
Rund 70 geladene Gäste nahmen am „Bundesliga-Talk“ von Reifen Stiebling teil. Vor der Corona-Pandemie führte das Herner Unternehmen diese Format bereits in Haltern und Gelsenkirchen durch, damals mit Gästen wie Klaus Fischer, Werner Hansch und Olaf Thon. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Nicht nur nach diesem Match: „Social Media hat den Nachteil, dass dort jeder seinen geistigen Bullshit von sich geben kann. Viele denken, dass es eine rechtsfreie Zone ist.“ Nach Spielen erhalte er bis zu 4000 Reaktionen, davon rund die Hälfte Beleidigungen. Es erfordere eine gewisse Reife, damit umzugehen. Positiv bewertet er dagegen eine andere Entwicklung: „Ich bin froh, dass es den Video-Assistenten gibt.“ Ganz krasse Fehler würden damit - in der Regel - vermieden. Er verlasse sich aber nicht auf dieses Hilfsmittel: „Ich habe immer den Anspruch, als Schiri auf dem Platz die richtigen Entscheidungen zu treffen.“

Jenseits des Platzes

Wichtig war beim Herner Bundesliga-Talk aber nicht nur aufm Platz: Es kam viel Persönliches zur Sprache. Zum Beispiel: dass Aytekin Hobby-DJ ist, von Freunden aufgrund der markanten Gesichtszüge „anatolischer Faltenhund“ genannt wird, häufig auf Ibiza Urlaub macht und „am Glas gut ausgebildet ist“ (Kinhöfer), sprich: gerne feiert. Doch auch das war Thema: Als Siebenjähriger sei er von seinen Eltern zu den Großeltern in die Türkei geschickt wurde, weil in der kleinen deutschen Wohnung nach der Geburt der Schwester Platz gefehlt habe und die Rückkehr der gesamten Familie sowieso bald anstehen sollte. Nach vier Jahren bei den Großeltern hätten seine Eltern „die grandiose Idee“ gehabt, ihn zurück nach Deutschland zu holen.

Gastgeber: die Geschäftsführer Alexander Stiebling (li.) und Christian Stiebling.
Gastgeber: die Geschäftsführer Alexander Stiebling (li.) und Christian Stiebling. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Nach der Schule und einer Lehre als Industrie-Kaufmann bei Daimler-Benz habe er sich schon in jungen Jahren selbstständig gemacht – um die Schiedsrichterkarriere weiter verfolgen zu können und um unabhängig zu sein, wie er sagte. Zu seinen Firmengründungen und -beteiligungen zählten unter anderem die Onlineportale Anwalt.de und Fitnessmarkt.de sowie Astro TV, außerdem verdingt er sich (nicht nur für Reifen Stiebling) als professioneller Redner bei Firmenevents. Aytekins neuestes Projekt: der Online-Verkauf von Silberschmuck für Männer.

>>> ARD-Dokumentation über Aytekin & Co.

In der fünfteiligen TV-Dokumentation „Unparteiisch - Deutschlands Elite-Schiedsrichter“ hat die ARD Deniz Aytekin und zahlreiche weitere Referees mit der Kamera begleitet - auf und jenseits des Platzes.

Zu hören ist dabei unter anderem auch die Kommunikation Aytekins mit Spielern bei der Partie Eintracht Frankfurt gegen Bayern München, dem Eröffnungsspiel der Saison 2022/23). So sagte er zu Bayern-Ikone Thomas Müller über dessen Mitspieler Jamal Musiala: „Leck mich am Arsch, ey, das ist brutal. Der Musiala, der nimmt mir mit Ball 70 Meter ab bei einem 100-Meter-Sprint.“

Die Doku ist bereits in der ARD-Mediathek zu sehen. Im TV läuft „Unparteiisch“ am 26. August sowie am 12. September.