Herne. Der Herner Arzt Christoph Wiemer ist in die Ukraine gereist, um dort medizinisch zu helfen. Was er dort erlebt hat, erzählt er im WAZ-Interview.
Er nutzt seinen Ruhestand, um den Menschen in der Ukraine zu helfen. Zuletzt war der Herner Arzt Dr. Christoph Wiemer (67) für eine Woche in einem Flüchtlingslager in einem ukrainischen Dorf und hat dort unter anderem Kriegsverletzte und erkrankte Menschen behandelt. Im WAZ-Interview berichtet er von seiner Reise durch das Kriegsland.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich für die Ukraine zu engagieren?
Als im Februar der Krieg in der Ukraine losging, habe ich mich mit meiner Frau bei der Gesellschaft Bochum-Donezk engagiert. Spenden, wie Lebensmittel und Kleidung, mussten in Care-Pakete gepackt und in Lastwagen geladen werden. Da wurden mehr oder weniger 20 Tonnen per Hand aufgeladen. Circa 30 bis 40 Tonnen sind jeden Tag durch die Hände der ehrenamtlichen Mitarbeiter gegangen. Das war richtig sportlich. Meine Frau und ich waren abends richtig platt.
Ihr Engagement fing also damit an, dass Sie Spenden für die Ukraine in Lastwagen geladen haben?
Ja, damit fing es an. Und dann war ich im März knapp zwei Wochen lang in Chelm an der polnisch-ukrainischen Grenze im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge. Dann hat sich ein innerukrainisches Flüchtlingslager im Süden von Kiew gebildet. Das war zu der Zeit, als man die furchtbaren Bilder aus Butscha und Irpin im Fernsehen gesehen hat. Da sind wir jetzt hingefahren.
Zum innerukrainischen Lager im Süden von Kiew?
Genau, nahe der Stadt Tscherkassy. Das ist eine ländliche Gegend im Zentrum der Ukraine. Ursprünglich war es ein Kinderheim. In der Folge des Krieges ist es dann als Flüchtlingslager benutzt worden. Unter den Bombardements hat man Menschen dorthin evakuiert. Auf der Fahrt dorthin sind wir auch in Butscha und in Kiew gewesen.
Was haben Sie konkret in dem Flüchtlingslager gemacht?
Ich habe dort Menschen mit Wunden behandelt. Das waren nicht nur Kriegswunden. Es gab auch Menschen, die länger nicht mehr behandelt wurden und andere Erkrankungen haben. Ein junger Mann, den ich versorgt habe, hatte eine Kriegsverletzung durch einen Granatsplitter. Seine Strecksehnen am vierten und fünften Finger waren durchtrennt. Die Wunde war noch nicht geschlossen, aber sauber.
Wie Sie eben schon gesagt haben, waren sie auch in Butscha. Das kennt man vor allem von den Fernsehbildern nach dem Massaker. Wie hat es sich für Sie angefühlt, dort gewesen zu sein?
Ein halbes Jahr nach dem Krieg dort zu sein, ist sehr surreal. Man sieht die abgebrannten Wohnblocks und die völlig zerstörten Siedlungen. Den Brandgeruch hat man noch in der Nase. Die Trümmer auf den Straßen sind beseitigt. Der Verkehr fließt wieder normal. Man fühlt sich wie im falschen Film. Man sah auch immer noch im Straßengraben die zerschossenen Panzer.
Durch Kiew sind Sie auch gefahren. Was haben Sie dort gesehen?
Vor dem St. Michaelskloster werden Panzer als Kriegsbeute ausgestellt. Das ist Psychologie, um die Kampfmoral hochzuhalten. Dabei wird einem bewusst, dass man in einer anderen Welt ist, in einem Kriegsland. Auch an dem großen Boulevard sind überall Poster von der siegreichen ukrainischen Armee. Auch zum Anwerben von Freiwilligen. Und ja – Militär ist überall präsent.
Wie gehen Sie persönlich damit um, das Leid und die Folgen des Kriegs vor Ort zu sehen?
Ich habe die emotionalen Eindrücke von der Reise erst richtig gespürt, als ich wieder zu Hause war und meine Frau und meine Tochter mich in den Arm genommen haben. Als ich dann davon erzählt habe, habe ich gemerkt, wie die Gefühle hochkommen und wie ich mit meiner eigenen Gemütslage kämpfen musste.
Und wie war Ihre Gemütslage vor Ort?
Als Unfallchirurg habe ich schon so manches erlebt. Emotionen kann man in dem Moment vielleicht durch die Profession unterdrücken. Es kommt erst im Nachhinein hoch, wenn dieser unmittelbare Gefahrenmoment vorbei ist und der Adrenalinspiegel wieder sinkt.
Was motiviert Sie dazu, in der Ukraine zu helfen?
Wenn ich von dem eigenen Land will, dass es die Ukraine mit allem unterstützt, dann muss ich es auch selbst tun. Gerade als Chirurg stehe ich da mehr oder weniger vorne in der ersten Reihe.
Weil Sie die Fähigkeit haben, medizinisch zu helfen?
Ich komme aus einer generationenübergreifenden Arztfamilie. Wenn man den Beruf als Berufung nimmt, stellt sich die Frage fast automatisch. Und in diesem Dorf in der Nähe von Tscherkassy gibt es weit und breit keine medizinische Versorgung. Da gibt es eine kleine Krankenstation. Dort war bis vor kurzem eine Krankenschwester, die für 30 Euro im Monat dort gearbeitet hat, dann aber für diesen Lohn nicht mehr arbeiten wollte. Für 200 Euro im Monat würde sie gerne jeden Tag zurückkommen. Dort kann man mit ganz kleinen Mitteln schon wahnsinnig viel bewegen, helfen und unterstützen.
Ihr Vater war im Zweiten Weltkrieg in der Gefangenschaft als Arzt in der Ukraine tätig. Hat Sie das beeinflusst, heute dort zu helfen?
Im Unterbewusstsein ganz sicher. Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg in Bochum im St. Elisabeth-Hospital. Dort war er der einzige Chefarzt, der im Krieg den Betrieb als Frauenarzt aufrechterhalten hat. Dort hat er jüdische Frauen mit Hilfe der Nonnen unter anderem in der Küche versteckt. Von meinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine war, gibt es Bilder, wie er an einem Bauernhaus eine Fahne mit rotem Kreuz aufgehangen und auch für die Zivilbevölkerung eine kleine Praxis eingerichtet hat. Als ich in dem Dorf in der Ukraine diese Krankenstation, gefunden habe, dachte ich: Das kann nicht wahr sein, wie sich das wiederholt. Ich habe mich an die Erzählungen meines Vaters leibhaftig erinnert.
Was möchten Sie mit Ihrer Hilfe vor Ort erreichen?
Hilfe zur Selbsthilfe. In dem Dorf in der Nähe von Tscherkassy wäre es mein Ziel, die Krankenstation wieder herzurichten, damit es dort auch für die umliegenden Dörfer und für die Flüchtlinge wieder medizinische Versorgung gibt. Dafür ist es wichtig, längerfristig den Lohn für die Krankenschwester zu gewährleisten, damit sie wieder vor Ort ist. Dies will organisiert werden, dazu brauche ich wiederum Hilfe. Ich habe die Rückmeldung bekommen, dass dann auch ein ukrainischer Arzt wieder dorthin kommen würde – ohne Bezahlung.
Haben Sie also vor, noch einmal in die Ukraine zu reisen?
Wenn die Gesamtlage in der Ukraine es zulässt, möchte ich noch einmal hinfahren. Ich war jetzt selbst vor Ort und weiß, was fehlt und was gebraucht wird. Es braucht Basismedizin. Die Dauerversorgung muss vor Ort passieren.
Gab es einen Moment Ihrer Reise, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Etwa zehn Tage, bevor wir dorthin gefahren sind, haben wir in Bochum einen Lkw für dieses Flüchtlingslager beladen. Mit Stühlen, Geschirr, Kleidung und Betten. Jetzt kam ich dorthin und habe die Sachen wieder vorgefunden, die ich in den Lastwagen geladen habe. Ich saß auf dem Stuhl, den ich vorher selbst eingeladen habe. Ich habe von dem Teller gegessen, den ich selbst eingeladen habe. Das hat mich sehr berührt.
Was sagen Ihre Frau und Ihre Kinder dazu, dass Sie in die Ukraine reisen?
Als ich es meiner Tochter gesagt habe, hat sie geweint. Später waren sie dann ganz stolz auf den Papa. Meine Frau hilft in Bochum mit. Sie hat mich unterstützt. Und mein Sohn hat vor kurzem noch geschrieben, er wäre stolz auf seine Eltern. Wenn man das von den Kindern zurückgespiegelt bekommt, ist das natürlich sehr schön.
Gibt es neben dem Leid auch positive Erlebnisse von Ihrer Reise?
Not schweißt zusammen und fördert das wahre Herz. Die ukrainische Bevölkerung ist sowieso sehr emotional. Das ist eine Herzlichkeit, der man sich nicht entziehen kann. Man ist gleich ergriffen und muss helfen. Die Menschen sind so unglaublich dankbar. Im Flüchtlingslager haben wir alle zusammen zu Mittag gegessen und dabei hat der Leiter eine Dankesrede gehalten. Ich muss schon sagen, dass ich dabei zu Tränen gerührt war.
>>> Über den Herner Arzt Dr. Christoph Wiemer
- Bis 2021 war Christoph Wiemer Chefarzt der Unfallchirurgie am Evangelischen Krankenhaus in Castrop-Rauxel. Heute ist der 67-jährige Herner im Ruhestand und lebt in Herne-Mitte.
- Seit Beginn des Krieges engagiert sich Wiemer gemeinsam mit seiner Frau über die Gesellschaft Bochum-Donezk für die Ukraine. Die Gesellschaft wird unter anderem auch vom Musiker Rea Garvey unterstützt. Weitere Informationen zur Gesellschaft sind auf der Internetseite www.bochum-donezk.de zu finden.
- Im März 2022 war Wiemer bereits an der polnisch-ukrainischen Grenze in Chelm und hat dort in einem Flüchtlingslager medizinische Hilfe geleistet.