Herne. Rund 300 Kinder aus der Ukraine müssen in Herne in den Schulen integriert werden. Wie das funktioniert? Ein Ortsbesuch an einer Grundschule.
In einem Stuhlkreis sitzen elf Kinder beisammen, während ihre Lehrerin eine Karte mit einem Bild darauf in die Mitte legt und fragt: „Welche Farbe siehst du?“ „Rot, gelb, blau.“ Manche Kinder antworten schnell und sicher, andere sind noch etwas schüchterner. Denn für sie sind all diese Worte fremd. Sie sind neu in Herne, da sie vor dem Krieg aus ihrer Heimat Ukraine geflüchtet sind. Seit etwa einem Monat sind sie in einer Willkommensklasse an der Freiherr-vom-Stein-Grundschule und versuchen dort, den Schritt in ihr neues Leben zu gehen – und Deutsch zu lernen.
In der Klasse sind derzeit eigentlich 16 von insgesamt 113 Kindern im Alter zwischen sechs bis zehn Jahren, die seit Kriegsbeginn nach Herne gekommen sind und sich registriert haben. Die Stadt Herne hat sich dazu entschieden, die Kinder nicht direkt in die regulären Klassen zu integrieren, sondern erstmal in Willkommensklassen zu bündeln. Die Kinder zwischen sechs und zehn Jahren werden gemeinsam unterrichtet.
Willkommensklasse in Herne: Lehrerin spricht kein ukrainisch
Deutsch, Mathe, aber auch Kunst und Sport - die Kinder der Willkommensklasse haben zwar noch keinen festen Stundenplan, aber sie sollen soweit möglich in allen Fächern beschult werden, sagt Petra Schachner, kommissarische Schulleiterin der Freiherr-vom-Stein-Grundschule. Jeden Tag von 9 bis 12 Uhr kommen sie zusammen; danach geht es mit den anderen Kindern in die OGS-Betreuung. Als die Stadt sich erkundigte, an welcher Schule noch räumliche und personelle Möglichkeiten für eine Willkommensklasse bestünden, wollte sie helfen. „Wir haben einen Raum von der OGS freigeräumt und eine Studentin, die schon vorher bei uns gearbeitet hat, dafür gewonnen.“
Lehramtsstudentin Luisa Sondermann spricht kein Wort ukrainisch, hat sich aber dennoch der besonderen Herausforderung gestellt. „Am Anfang habe ich gedacht: ,Hoffentlich bekomme ich das emotional gut hin’“, sagt die 26-Jährige. Schließlich hätten die Kinder alle eine besondere Geschichte und eine Flucht hinter sich. „Aber jetzt akzeptieren sie mich schon als Bezugsperson, sie haben Halt und Sicherheit. Das ist mir das Wichtigste.“
Kinder aus Ukraine: Keine schlimmen Traumata
Die meisten Kinder wirken an diesem Morgen fröhlich. Sie lachen und haben einen aufgeweckten Blick. „Fast ausnahmslos sind die Kinder nicht traumatisiert angekommen“, sagt Schulamtsdirektorin Andrea Christoph-Martini. Doch Lehrerin Luisa Sondermann sieht auch Momente, in denen sich die Kinder nicht so wohl fühlen. „Ich frage sie jeden Morgen erstmal, wie es ihnen geht.“ Vor allem bei den älteren Kindern laute die Antwort nicht immer „gut“. Über das Erlebte, über die Flucht und die Sorgen wird in der Willkommensklasse aber nicht gesprochen. Dafür reichten die Sprachkenntnisse nicht aus. Aber wenn die Lehrerin bemerkt, dass es einem Kind besonders schlecht geht, kann sie psychologische Hilfe hinzurufen.
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Die Kinder wollen lernen, die Stimmung ist entspannt aber konzentriert, niemand macht Quatsch. Wenn ein Kind etwas nicht versteht, helfen die anderen aus und übersetzen spontan. „Welche Worte fangen mit ,S’ an?“, fragt Luisa Sondermann. „Salat!“, „Siebzehn!“, „Salami!“, Sonne!“ Bereits in der kurzen Zeit, haben die Kinder viel gelernt. „Ich habe das Gefühl, dass die Kinder in einer Stunde so viel lernen, wie Erstklässler in einer Woche“, sagt ihre Lehrerin.
Große Bereitschaft, deutsch zu lernen
„Die Familien sind sehr bildungsorientiert und wollen unbedingt deutsch lernen“, sagt auch Petra Schachner. Die Mütter nutzten den Vormittag, wenn die Kinder in der Schule sind, um ebenfalls Sprachkurse zu belegen. „Manche Eltern fragen auch, wann die Kinder in die richtigen Klassen kommen.“ Aber dafür sei es jetzt noch zu früh – und die Klassen seien zu voll, so Schachner. „Eigentlich ist das Prinzip in Herne, die Kinder möglichst früh einzugliedern. Aber unsere Klassen sind mit 28 Kindern voll, mehr geht nicht“, so die kommissarische Schulleiterin. Deshalb habe die Stadt entschieden, die Kinder erstmal in Willkommensklassen zu lassen. Ausnahmen für besonders gute Schüler werde es wohl bald geben. Ein weiterer Grund neben den vollen Regelklassen sei auch, dass die Flüchtlingsfamilien erstmal einen festen Wohnort finden sollen, an dem sie bleiben und dort einen Schulplatz bekommen sollen.
Doch noch benutzt Luisa Sondermann auch ihre Hände, um sich zu verständigen. Und wenn alle Stricke reißen, greift sie auf eine Übersetzungs-App auf ihrem Handy zurück. Geübt werden neben dem Schwerpunkt der Sprache auch die Verhaltensregeln für den normalen Unterricht. Also das Melden, bevor man zu Wort kommt oder auch das Wort an andere Kinder weiterzugeben. Denn das ist die Grundlage dafür, dass die Kinder möglichst bald vollständig in den Regelklassen integriert werden können.
>>>WEITERE INFORMATIONEN: Mehr als 300 Schüler
- Insgesamt gut 300 schulpflichtige Mädchen und Jungen sind bisher registriert worden. Davon besuchen 113 besuchen eine Grundschule, 130 eine weiterführende Schulen und 37 ein Berufskolleg. 21 Kinder würden im August eingeschult.
- Die Willkommensklassen sollen, Stand jetzt, bis zum Sommer 2023 fortgesetzt werden. Allerdings hänge das auch von der Nachfrage ab, betont Andrea Christoph-Martini. Derzeit gebe es bereits eine Stagnation bei den Ankömmlingen.
- In den Sommerferien werden für die Flüchtlingskinder intensive Sprachkurse angeboten.