Herne. Zum Holocaust-Gedenktag schreibt Irit Matan aus Israel an die Hernerinnen und Herner. In ihrem Brief schildert sie das Schicksal ihrer Familie.
An diesem Donnerstag, 27. Januar, ist Holocaust-Gedenktag. Aus diesem Anlass hat Irit Matan einen offenen Brief aus Israel an den Oberbürgermeister sowie die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Herne geschickt.
Irit Matans Mutter ist Esther Hocherman (91), die in einem Altenheim bei Tel Aviv lebt. Früher hieß sie Edith Jankielewitz. Mit ihren Eltern Rosa und Hermann Jankielewitz wohnte sie auf der Kaiser-Wilhelm-Straße 42 in Herne-Mitte, der heutigen Viktor-Reuter-Straße. Als Siebenjährige gelang ihr im Februar 1939 mit einem Kindertransport die Flucht zuerst nach Belgien und dann nach Frankreich. Nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht wurde sie dort von Franzosen versteckt und überlebte. Ihre Eltern hat sie allerdings nie wiedergesehen: Rosa und Hermann Jankielewitz wurden aus Herne deportiert und 1944 im KZ Stutthof ermordet.
„Ich habe sie nicht gekannt und ich habe nie Oma und Opa zu ihnen sagen können. Ich habe sie nur durch das einzige Bild von ihnen kennengelernt, das im Zimmer meiner Mutter an der Wand hing“, schreibt Irit Matan (63) in ihrem Brief an die Hernerinnen und Herner. Was ihre Mutter Esther Hocherman durchmachte, könne sie sich gar nicht vorstellen: „Ein siebenjähriges Mädchen, das seine Eltern verliert und seinem Schicksal überlassen wird. Ein Mädchen, das seinen Namen und seine Identität verbergen und gleichzeitig das Andenken an seine Eltern und seine Heimat lebendig halten musste, damit es seine wahre Identität nicht verliert.“
Nächtliche Schreie in einer unbekannten Sprache
Geboren wurde Irit Matan 1958 in Israel. „Als ich noch ein Kind war, hat meine Mutter mit mir weder über den Holocaust noch über ihr Leben als Waise gesprochen. Sie verdrängte ihre schrecklichen Erinnerungen und Gefühle, aber des Nachts, wenn sie schlief, hörte ich ihre Schreie in einer mir unbekannten Sprache. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war, aber ich verstand auch, dass wir nicht darüber reden sollten“, schreibt sie in ihrem Brief.
Erst als sie erwachsen gewesen sei und angefangen habe, als Psychotherapeutin zu arbeiten, habe sie sich getraut, ihre Mutter zu fragen. Als sie über die traumatischen Kindheitserfahrungen sprachen, sei Irit Matan klar geworden „dass wir nicht nur an die Millionen Opfer denken, sondern uns auch um jene kümmern müssen, die überlebt haben. Wir müssen ihnen sorgfältig zuhören, da sie in ihrer Seele schreckliche Ereignisse mit sich tragen.“
Ihre Mutter habe sie stets ermahnt, den Holocaust nicht zu vergessen und die Zeichen von Antisemitismus und Antizionismus nicht zu ignorieren: „Sie hat uns wiederholt gesagt, dass es von entscheidender Bedeutung ist, den Staat Israel zu schützen, der Staat, der ihr und anderen jüdischen Flüchtlingen eine Heimat gegeben hat.“ Israel, so die 63-Jährige, „ist das einzige Land, in dem sich Juden wehren können. Das ist unsere Heimat.“
Unerbittliches seelisches Trauma ist immer da
Seit 20 Jahren arbeitet Irit Matan bei „AMCHA“, einer Hilfsorganisation für die psychologische Betreuung von Holocaust-Überlebenden und ihrer Angehörigen. „Ich kümmere mich um Überlebende der Shoah und ihre Familien, der sogenannten Zweiten Generation“, heißt es in dem Brief. „Ich treffe mich mit Überlebenden und erlebe mit ihnen die schrecklichen Erinnerungen, die in ihren Körpern und Gedanken hinterlassen wurden. Viele von ihnen, wie meine Mutter, haben ihre schmerzlichen Erfahrungen jahrzehntelang verdrängt, um Platz für das Überleben zu schaffen. Sie gründeten Familien und verdienten ihren Lebensunterhalt. Als sie älter wurden, kehrten die lange verdrängten Erinnerungen zurück. Ich erkenne das Trauma in ihren Kindern und in ihren Familien genau so, wie ich es in meiner Familie und in mir erkenne.“
Esther Hocherman ist eines der Kinder von La Hille
Nach dem Novemberpogrom flohen rund 100 jüdische Kinder mit Hilfe der Jüdischen Gemeinde nach Belgien. Im Mai 1940 beginnt der Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Die französischen und belgischen Einheiten werden förmlich überrannt. Die Kinder finden in Südfrankreich eine neue Bleibe, das Schloss La Hille.
Südfrankreich untersteht dem alten Marschall Pétain, eine Art freie Zone, die von den Deutschen geduldet wird. Nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 zur „Endlösung der Judenfrage“ wird auch in Frankreich die Judenverfolgung eingeleitet. Im Februar 1943 wird das Schloss La Hille umstellt, die älteren Jugendlichen werden deportiert und nur wenige werden überleben.
Jetzt beginnen waghalsige Fluchten, um den Häschern zu entkommen. Eine Reihe von Kindern werden gefasst und in die Konzentrationslager deportiert, aber viele überleben dank ungezählter Helfer. Edith Jankielewitz (Esther Hocherman) ist eines der Kinder von La Hille.
„Dieses unerbittliche seelische Trauma ist immer da, Tag und Nacht, und darf nicht nur am Holocaust-Gedenktag gedacht werden“, schreibt Irit Matat am Ende ihres offenen Briefs. Sie schließt ihn mit dem Wort „Schalom“.
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Rosa und Hermann Jankielewitz mussten im November 1941 ihre Wohnung verlassen und wurden zwangsweise in das „Judenhaus” an der Bahnhofstraße 53 eingewiesen. Am 30. Januar 1942 wurden sie über Dortmund in das Ghetto Riga deportiert und 1944 im KZ Stutthof ermordet. Ihre Namen befinden sich auf dem Shoah-Mahnmal in Herne-Mitte.
Edith Jankielewitz kam über Frankreich nach Israel, wo sie heiratete. Aus dem „kleinen deutschen Mädchen Edith“, so beschrieb sie sich selbst in einer Rede am Shoah-Gedenktag 2015, wurde die Israelin Esther Hocherman. Die heute 91-Jährige arbeitete früher als Fremdenführerin und hat dabei auch Delegationen in Deutschland begleitet. Sie hat Herne mehrmals besucht, unter anderem mit ihrer Tochter Irit Matan im Jahr 2010 zur Einweihung des Shoah-Mahnmals.
Irit Matan hat ihren Brief auf Englisch verfasst. Ralf Piorr und Pat van den Brink haben ihn ins Deutsche übersetzt.