Herne. Kurz vor dem Start der neuen Ampelregierung: einige Koalitionsziele im Herner Expertencheck. Warum es viel Lob, aber auch Zweifel gibt.
In wenigen Tagen tritt die neue Ampel-Regierung von SPD, Grünen und FDP an. Was sagen Expertinnen und Experten aus Herne zu den im Koalitionspapier verankerten Zielen. Die WAZ hat nachgefragt.
Bürgergeld statt Hartz IV
Arbeitslosengeld II bzw. Hartz IV soll durch Bürgergeld ersetzt werden. Franz-Josef Strzalka vom Herner Arbeitslosenzentrum sieht in den von der Ampel formulierten Zielen zwar positive Ansätze, spricht aber auch von einem entscheidenden Versäumnis: Von einer Erhöhung der Regelleistungen für Langzeitarbeitslose sei bisher nicht die Rede.
„Das ist für mich ein Knackpunkt“, sagt Strzalka. Schon früher sei gerichtlich festgestellt worden, dass die Sätze zu niedrig seien. Vor dem Hintergrund der aktuellen Preissteigerungen habe sich das Problem noch einmal deutlich verschärft. Und auch das kritisiert der Leiter der Beratungsstelle an der Hermann-Löns-Straße: Die Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose seien immer noch nicht vom Tisch; Menschen würden unter das Existenzminimum gedrängt. Positiv sei dagegen, dass in den ersten beiden Jahren das Vermögen und die Wohnungsgröße nicht berücksichtigt werden sollen.
Dagmar Spangenberg-Mades von der evangelischer Arbeitslosenberatung Zeppelin-Zentrum in Eickel teilt diese Analyse ihres Kollegen in vielen Punkten. Grundsätzlich zu begrüßen ist aus ihrer Sicht die Absichtserklärung, dass das Regelwerk transparenter und unbürokratischer werden soll: „Das ist etwas, was während der Pandemie völlig vor die Hunde gegangen ist.“ Ob das in der Praxis auch umgesetzt werde, müsse sich aber erst zeigen. Ein weiterer Pluspunkt des Ampelvertrags sind aus ihrer Sicht die versprochenen Bemühungen bei der Sprachförderung.
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Wird das noch was mit der Erhöhung der Regelsätze? „Ich bin durch meine Erfahrungen in all den Jahren eher skeptisch“, sagt Spangenberg-Mades. Die Leistungen seien viel zu niedrig; darauf hätten auch die Herner Arbeitslosenzentren immer wieder hingewiesen.
Wahlrecht ab 16
Die Ampel will das Wahlalter bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre herabsenken. Der Herner Schüler Julian Löchter ist dafür. Der Röhlinghauser ist im Februar 16 geworden. Hätte er bei der Bundestagswahl am 26. September seine Stimme abgegeben, wenn es bereits möglich gewesen wäre? „Ich hätte auf jeden Fall gewählt“, sagt das Mitglied des Herner Kinder- und Jugendparlaments (KiJuPa). Es sei ja kein Geheimnis, dass die Politik sich vor allem an älteren Menschen orientiere. Die Stimmen von Jugendlichen und jungen Menschen würden zu wenig gehört, so Löchter. Dieses Problem habe sich in der aktuellen Pandemie sogar noch verschärft.
Das Argument, dass 16- und 17-Jährige zu „unreif“ seien, lässt er nicht gelten: „Ein ganz großer Teil meiner Generation spricht häufig über Politik – auch in der Schule.“ In den vergangenen Jahren habe die Politisierung junger Menschen noch zugenommen, zum Beispiel durch Diskussionen über die Urheberrechtsreform und durch Fridays for Future. Die Namen von Politikern seien zwar nicht so bekannt, doch viele Jugendliche wüssten genau, in welche politische Richtung sie gingen, sagt Julian Löchter.
Gemeinnütziger Journalismus
Die Ampel will nicht-gewinnorientierten Journalismus als gemeinnützig anerkennen, was unter anderem dazu führen würde, dass Spenden steuerlich absetzbar sind. Der Herner FDP-Landtagsabgeordnete (und frühere Journalist) Thomas Nückel hat diese Forderung bereits 2014 in den Landtag eingebracht. Und er hat aktuell wohl auch als Mitglied der Ampel-Verhandlungsgruppe „Medien und Kultur“ nicht unwesentlich zum Erreichen dieses Ziels beigetragen.
Und was könnte dieser Schritt für Herne bedeuten? „Ich könnte böse sein und sagen: Ich würde mir mehr Konkurrenz für die WAZ wünschen“, sagt Nückel. Ein-Zeitungs-Städte wie Herne seien ihm grundsätzlich ein Dorn im Auge. Die Stärkung des gemeinnützigen Journalismus biete möglicherweise Ausbauchancen für das Online-Nachrichtenportal „Hallo Herne“ und ähnliche Anbieter sowie für Radio-Projekte im Netz, so der medienpolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion. Größere Auswirkungen werde die Gemeinnützigkeit aber wohl auf den regionalen Bereich haben, hier: aufs Ruhrgebiet.
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Queeres Leben
Die im Koalitionsvertrag erklärten Ziele zum Punkt „Queeres Leben“ (sprich: nicht heterosexuelle Menschen) seien sehr zu begrüßen, erklärt Laron Janus, der zuletzt unter anderem fürs Queere Jugendforum den digitalen Christopher Street Day in Herne organisiert hat. „die Ampelparteien greifen viele innerhalb der Community kursierenden Themen auf und bringen diese enorm voran.“ Als besonderen Pluspunkt bewertet er die „längst überfällige Abschaffung des völlig antiquierten sogenannten ,Transsexuellengesetzes’.“ Diese Reform sei bisher nicht zustande gekommen, weil die SPD Rücksicht auf die Union genommen habe.
Darüber hinaus sei auch die beabsichtigte Schließung von Schlupflöchern bezüglich der „oft medizinisch pseudo-legitimisierten Genitalverstümmelungen intergeschlechtlicher Personen“ sehr wichtig. Dieser Punkt sei leider in vergangenen Legislaturperioden völlig zu Unrecht überhört worden. Kleine Einschränkung: „Letztlich muss sich auch die kommende Regierung an ihren Handlungen messen lassen, nicht an ihren Absichten.“ Der Entwurf stimme jedoch äußerst zuversichtlich.
Kinderrechte im Grundgesetz
„Wir wollen starke Kinderrechte im Grundgesetz verankern“ - so haben es SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. „Das ist längst überfällig“, sagt die Herner KinderanwältinBibi Buntstrumpf alias Nuray Sülü. Seit Jahren setze sie sich - auch in bundesweiten Gremien - für dieses Ziel ein. „Es gibt seit vielen Jahren nur Absichtserklärungen.“ Am Ende sei es dann immer an irgendwelchen Formulierungen gescheitert.
Besteht nicht die Gefahr, dass Kinderrechte im Grundgesetz nur Alibicharakter haben? „Ja, diese Gefahr besteht“, sagt Sülü. Kinder und Jugendliche hätten nicht die größte Lobby, das habe sich besonders in der Pandemie gezeigt: „Sie waren die großen Verlierer.“ Deshalb müsse es immer Menschen geben, so die Kinderanwältin mit Blick auf die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz, „die das mit Leben füllen“.
Asyl- und Ausländerrecht
Der Koalitionsvertrag könne im Bereich Asyl- und Ausländerrecht ein Schritt nach vorne oder zumindest in die richtige Richtung sein, sagt Flüchtlingsberaterin Katja Jähnel vom Eine Welt Zentrum des evangelischen Kirchenkreises in Herne. Voraussetzung sei allerdings, dass die Konkretisierungen und vor allem Anwendungshinweise für die örtlichen Ausländerbehörden nicht gar so lange auf sich warten ließen. In Herne könne sich eine Umsetzung nicht zuletzt auf die zahlreichen Menschen aus Syrien positiv auswirken, die nur den sogenannten subsidiären Schutz erhalten hätten. „Auch der Familiennachzug wird insgesamt erleichtert“, so Jähnel. Zu den Minderjährigen dürften nun auch die Geschwister einreisen, nicht nur die Eltern: „Damit wird der Schutz der Familie gewahrt, niemand wird auseinander gerissen.“
Auch die vielen in Herne lebenden Flüchtlingen mit langjährigen Duldungen profitierten von den Beschlüssen der Ampel. „Die Aufhebung des Arbeitsverbotes sowie die Abschaffung der ,Duldung light’ - eine der zentralen Verschärfungen der letzten Jahre - ist sehr zu begrüßen“, erklärt die Flüchtlingsberaterin. So können Geduldete über eine Arbeit und die Sicherung des Lebensunterhaltes eine Aufenthaltsverfestigung anstreben. Das werde allerdings auch weiterhin nur mit geklärter Identität möglich sein. Die in Herne lebenden Kinder und jugendlichen Flüchtlinge könnten ebenso von Erleichterungen bei der Aufenthaltsverfestigung profitieren. „Durch eine Verkürzung der Zeiten für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wird ihnen Sicherheit gegeben und damit die Integration in unserer Gesellschaft nachhaltig gefördert.“
Und was fehlt? „Mit keinem Wort wird über die langen Aufenthaltszeiten der Flüchtlinge in den Erstaufnahmeeinrichtungen gesprochen“, erklärt Katja Jähnel. Ankerzentren werde es nicht mehr geben, „aber wie soll das mit den Erstaufnahmeeinrichtungen dann laufen?“
Die Regelung, dass Kinder künftig nicht mehr in Abschiebehaft sollen, sei überfällig gewesen. Aber was sei mit kranken und häufig zutiefst traumatisierten Menschen, will Jähnel wissen. Der Nachweis über die Erkrankungen sei in den vergangenen Jahren so erschwert worden, dass es faktisch kaum möglich sei, die erforderlichen umfangreichen Gutachten zu erbringen, da die Ärzte häufig überlastet seien. „Somit trifft eine Abschiebung häufig diejenigen, die sich am wenigsten wehren können.“