Herne. Seit Jahren nimmt das Interesse an der Ausbildung ab – auch in Herne. Corona hat die Lage noch einmal verschärft. Welche Zukunftsfolgen drohen.

Hans-Joachim Drath führt seinen Dachdeckerbetrieb seit 26 Jahren. In den vergangenen Jahren ist die Suche nach einem Azubi für den Herner Kreishandwerksmeister immer schwieriger geworden: weniger Bewerber, die Anschreiben voller Rechtschreibfehler, die Zeugnisse voller Fünfen und Sechsen. Irgendwie hat es aber immer noch geklappt. In diesem Jahr ist das anders. Zum ersten Mal in den langen Jahren seiner Selbstständigkeit hat Drath keinen Auszubildenden gefunden.

Damit dürfte der Dachdeckermeister nicht alleine dastehen. Laut jüngsten Zahlen der Agentur für Arbeit sind in Herne derzeit noch 317 Lehrstellen unbesetzt. 364 Jugendliche sind noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Eine auffällige Entwicklung: Während es in diesem Jahr 33 Ausbildungsplätze mehr als im Vorjahr gibt, ist die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber um 203 gesunken. Das entspricht einem Rückgang von 13,9 Prozent.

Herner Handwerksbetriebe haben bis zu 30 Prozent weniger Azubis eingestellt

Im Handwerk sind die Zahlen noch dramatischer als in anderen Ausbildungsberufen. Die Betriebe der Herner Kreishandwerkerschaft hätten in diesem Jahr 25 bis 30 Prozent weniger Azubis eingestellt als 2020, sagt Hans-Joachim Drath. Neben Herne und Wanne-Eickel fällt noch Castrop-Rauxel in den Bereich der Innung. „Durch Corona war der Kontakt zu den Schulen nicht da, es konnten keine Praktika gemacht werden“, nennt Drath einen Grund für den Bewerbermangel. In ganz Herne gebe es zum Ausbildungsstart August 2021 etwa nur zwei Auszubildende zum Dachdecker und zwei Bauauszubildende.

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Abseits von Corona sieht Drath jedoch ein noch viel grundsätzlicheres Problem. „Schon in der Schule wird den Kindern gesagt: Schlagt möglichst den akademischen Weg ein“, so seine Beobachtung. Dabei sehe niemand, dass man in keiner Branche so schnell Karriere machen könne wie im Handwerk: „Nach der Ausbildung kann man sofort seinen Meister machen und theoretisch mit Mitte 20 einen Betrieb übernehmen.“ Seine Botschaft lautet: „Bewerbt euch noch – die Ausbildung kann auch am 1. September oder 1. Oktober starten.“

IHK-Beraterin: Noch viele freie Stellen in beliebten Berufen

„Coronabedingt war das Bewerberverhalten in diesem Jahr zögerlicher“, sagt auch Alexandra Brnicanin, Ausbildungsexpertin bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittleres Ruhrgebiet. Sie appelliert ebenfalls an junge Menschen, sich jetzt noch zu bewerben, und betont: „Die freien Stellen sind keine Resterampe.“ In vielen traditionell beliebten Berufen, zum Beispiel bei den Industrie- und Groß- und Außenhandelskaufleuten, seien noch Ausbildungsplätze unbesetzt.

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Doch auch die Betriebe müssen laut Brnicanin etwas tun. „Wir sind jetzt an dem Punkt, der sich schon lange abgezeichnet hat: Bewerber müssen nicht mehr froh sein, dass sie überhaupt einen Job bekommen. Sie können sich die Stelle aussuchen, die ihnen am besten gefällt.“ Deshalb werde es für Unternehmen immer wichtiger, die Außenwahrnehmung zu verbessern, attraktiver für junge Menschen zu werden und beispielsweise auch verstärkt auf Studienabbrecher zuzugehen.

Herner Handwerksmeister: Viele Azubis haben Probleme in der Berufsschule

Drath spricht ein weiteres Problem an: Habe man erst einmal den passenden Bewerber gefunden, sei keineswegs gesichert, dass er die Ausbildung auch tatsächlich zu Ende bringe. Das liege häufig nicht an fehlender Motivation oder Problemen im Job, sondern an schlechten Leistungen in der Berufsschule: „Ich habe viele Azubis mit einer Zuwanderungsgeschichte. Die kommen auf der Baustelle sprachlich super klar, aber die Textaufgaben in der Schule verstehen sie nicht.“ Hier würde er sich mehr Unterstützung wünschen.

In Zukunft sieht Drath einen massiven Fachkräftemangel auf seine Branche zurollen. Schon jetzt warte man teilweise wochen- oder monatelang auf einen Handwerker. „Wenn Sie ein Haus bauen wollen, dann tun sie es lieber sofort“, rät der Dachdeckermeister ganz ernst. „In zehn Jahren wird es nämlich unter Umständen kaum noch Handwerker geben.“

Weitere Informationen >> Ansprechpartner für Bewerber und Betriebe

  • Jugendliche und junge Erwachsene können sich unter 0800 4 5555 00 bei den Berufsberatern der Agentur für Arbeit Hilfe holen. Weitere Kontaktmöglichkeiten: www.arbeitsagentur.de/beratungswunsch oder Mail an Herne.Berufsberatung@arbeitsagentur.de.
  • Betriebe können auch kurzfristige Bewerbersuchen unter 0800 4 5555 20 der über den persönlichen Betreuer im Arbeitgeber-Service durchgeben. Weitere Kontaktmöglichkeit: Herne.Arbeitgeber@arbeitsagentur.de