Herne. Herner Eltern haben im vergangenen Jahr insgesamt über 1600 U-Untersuchungen ihrer Kinder versäumt. Warum dafür keine Konsequenzen drohen.

Sie sind essenziell, um die Entwicklung eines Kindes zu beurteilen: Zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr stehen die sogenannten U-Untersuchungen, die U1 bis U9, an. In Herne gibt es laut Angaben der Stadt 8937 Kinder unter sechs Jahren. Insgesamt 1659 Meldungen über versäumte U-Untersuchungen hätten das Familienbüro im vergangenen Jahr erreicht, teilt Stadtsprecherin Anja Gladisch mit.

U-Untersuchungen sind nicht verpflichtend. Versäumt eine Familie die Untersuchung, so wird dies dem Herner Familienbüro durch das Landeszentrum Gesundheit NRW (LZG) gemeldet. 2019 gab es zudem eine Neuerung in der entsprechenden Landesverordnung, die vorsieht, dass Gemeinden die Eltern nur noch über das Leistungsangebot informieren müssen. Welche weitergehenden Maßnahmen bei einem versäumten Termin ergriffen werden, obliegt den Behörden vor Ort.

Wer in Herne den Termin nicht wahrnimmt, wird per Post kontaktiert

Für Herne gilt: Versäumt eine Familie den Untersuchungstermin, so wird sie per Post von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Familienbüros kontaktiert. „In dem Schreiben werden sie auf die Sinnhaftigkeit der Vorsorgeuntersuchungen hingewiesen“, erklärt Gladisch. Außerdem würden die Eltern auf Unterstützungs- und Beratungsangebote aufmerksam gemacht und erhielten die Information, dass sie die Untersuchung auch nachholen können.

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Vor der Novelle von 2019 war das anders. Damals seien Hausbesuche durchgeführt worden, wenn eine Untersuchung auch nach Anschreiben nicht nachgewiesen wurde, so Gladisch. Allerdings hätten Zahlen des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF) belegt, dass eine verpasste Früherkennungsuntersuchung kein Indikator für eine Kindeswohlgefährdung sei. Das bedeute, dass sich daraus keine Kinderschutzaufgaben für das Jugendamt ergäben. Unter anderem diese Tatsache habe zur Änderung der Verordnung im Jahr 2019 geführt.

Herner Kinderärztin: „Viele hatten Angst, sich beim Arzt mit Corona anzustecken“

Für Dr. Renate Vahldieck sind U-Untersuchungen das Alltagsgeschäft. Die 66-jährige Kinderärztin führt seit 33 Jahren eine Praxis in Wanne-Eickel und ist Lehrbeauftragte der Ruhr-Universität Bochum. In ihrer Praxis hätten im vergangenen Jahr mehr Eltern die U-Untersuchung versäumt als üblich, sagt die Ärztin. Der Grund: „Viele hatten Angst, sich beim Arzt mit Corona anzustecken.“

Renate Vahldieck ist Kinderärztin in Herne.
Renate Vahldieck ist Kinderärztin in Herne. © Privat | Renate Vahldieck

In den allermeisten Fällen sei also kein böser Wille der Eltern vorhanden. Laut Vahldieck das Kernproblem: „Die meisten wissen gar nicht, dass man eine U-Untersuchung auch nachholen kann – zumindest so lange, bis die nächste ansteht.“ Immer wieder erlebe sie es, dass Eltern auf die Frage nach einem Nachholtermin erstaunt reagierten: „Wie, das geht noch?“, heiße es von vielen.

Bei U-Untersuchungen können auch schwere Erkrankungen erkannt werden

Vahldieck wünscht sich mehr Information, mehr Aufklärung und weitere Maßnahmen, falls Eltern nicht auf den Brief der Stadt reagieren. Denn die U-Untersuchungen seien für die weitere Entwicklung der Kinder von zentraler Bedeutung. „Das geht schon bei den Hör- und Sehfähigkeiten los. Es gibt Fälle, in denen Hörstörungen erst Jahre nach der versäumten U-Untersuchung diagnostiziert werden“, betont die Ärztin.

Auch Fehlbildungen der Geschlechtsorgane, zum Beispiel ein Hodenhochstand, fielen Eltern unter Umständen gar nicht auf. „In seltenen Fällen werden bei der U-Untersuchung sogar Herzfehler oder Störungen der Gehirnentwicklung gefunden, die man nach der Geburt noch nicht erkannt hat“, erklärt die Kinderärztin.

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Doch das ist nicht das einzige. Bei der Untersuchung könne man auch leichter Fälle identifizieren, in denen eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, so Vahldieck. Die betreffenden Eltern allerdings, räumt die Ärztin ein, würden wohl ohnehin nicht mit ihrem Kind beim Arzt erscheinen.

>> WEITERE INFORMATIONEN: Kein Anstieg der versäumten Untersuchungen

  • Die Stadt hat seit der Neuerung von 2019 keinen Anstieg der Meldungen über versäumte U-Untersuchungen registriert.
  • In den letzten Jahren habe es relativ konstant um die 1.500 Meldungen jährlich gegeben, so Stadtsprecherin Gladisch.
  • Nur 2020 sei im Vergleich zum Vorjahr ein leichter Anstieg von 67 Meldungen zu beobachten gewesen, den man unter anderem auf die Sorge vor Arztbesuchen in der Pandemie zurückführe.