Herne. Die Pandemie stellt Kinder erneut auf eine harte Probe. Bald müssen die Herner Viertklässler den Wechsel auf eine weiterführende Schule meistern.

Die Pandemie stellt das System Schule seit rund eineinhalb Jahren vor riesige Herausforderungen. Nach den Sommerferien wartet die nächste harte Probe - wenn die Viertklässler auf die weiterführenden Schulen wechseln.

Die Voraussetzungen dafür sind problematisch: Die Viertklässler haben seit dem ersten Lockdown im Frühjahr vergangenen Jahres ihre Klassenzimmer nur sporadisch gesehen, die meiste Zeit waren sie im Distanzunterricht - mit völlig unterschiedlichen sozialen und technischen Voraussetzungen. Da ist es völlig offensichtlich, dass nicht der komplette Stoff, der in den Lernplänen steht, 1:1 umgesetzt werden konnte. Die Grundschulen würden Rückmeldungen geben, welche Dinge erarbeitet werden konnten und welche nicht, erzählt Schulamtsdirektorin Andrea Christoph-Martini im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Sie appelliert an Kinder und Eltern, dass sie sich keine Sogen machen müssen. Alle Beteiligten hätten das Bewusstsein, was die Situation für die Schüler bedeutet.

Wiedereingewöhnung kann ein Jahr dauern

Das bestätigt Schulamtsleiter Andreas Merkendorf: Alle weiterführenden Schulen seien bereit, auf der einen Seite so viel Normalität wie möglich im System aufrecht zu erhalten, was Lernstoff, Benotung, Abschlüsse oder Übergänge anbelangt. Auf der anderen Seite seien sie bereit, sich die Kinder noch intensiver anzuschauen und noch länger Zeit zu geben. Merkendorf: „Die Schulen wissen, welchen Rucksack die Kinder zu schleppen haben.“ Manchen Kindern und Eltern, die man durch mangelnde Kommunikation verloren habe, müsse man die Institution Schule erstmal wieder nahe bringen. Doch die Schulen seien darauf vorbereitet.

Nicole Nowak, Sprecherin der Herner Gymnasien, geht noch weiter. Nicht nur die vierten Klassen seien neuralgisch, sondern auch die jetzigen fünften Klassen. Bereits bei ihnen hätten die Lehrer genau hingeschaut, wo die Schülerinnen und Schüler stehen. Klasse 5 bedeute auch im Normalfall zunächst „ankommen an der neuen Schule“. Doch das hätten die Kinder gar nicht ausgiebig machen können. Angesichts der Pandemie müsse im nächsten Schuljahr auch die Klasse 6 als Phase genutzt werden, um den Kindern noch einmal Raum zu geben, um wirklich anzukommen. Nowak: „Wir müssen umdenken.“

Schulamtsleiter Andreas Merkendorf zeigt sich irritiert bis erschrocken, dass es bislang vom NRW-Schulministerium keine Hinweise gibt, dass im kommenden Schuljahr die soziale Komponente beim Unterricht mehr Beachtung findet.
Schulamtsleiter Andreas Merkendorf zeigt sich irritiert bis erschrocken, dass es bislang vom NRW-Schulministerium keine Hinweise gibt, dass im kommenden Schuljahr die soziale Komponente beim Unterricht mehr Beachtung findet. © Funke Foto Services GmbH | Rainer Raffalski

Nowaks Kritik Richtung Land: Die Kernlerninhalte seien nicht angetastet worden und seien auf dem Stand von vor Corona. Man müsse jetzt genau schauen, was nicht erarbeitet werden konnte und wie man es aufholen könne. Merkendorf zeigt sich irritiert bis erschrocken, dass es auf Landeseben bislang keine Hinweise darauf gibt, dass die soziale Komponente Beachtung findet. Er appelliert: „Nicht nur Stoff, Stoff, Stoff pauken, sondern all die Dinge nachholen, die zu einem richtigen Schulleben gehören.“ Es müssten kreative Lösungen gefunden werden, wie man Dinge außerhalb des Unterrichts realisieren kann, so Nowak. Der sensible Umgang mit den Defiziten jenseits des Unterrichtsstoffs werde auch an den anderen Schulformen in Herne als wichtig erachtet, so Merkendorf.

Nowak sieht das kommende erste Halbjahr als Zeit der Wiedereingewöhnung, und wenn es keine Reduzierung in den Kernlehrplänen gebe, werde dieser Prozess wohl ein Jahr in Anspruch nehmen, bis wieder alles im Lot sei.

Deutliche Kritik am Corona-Aufholpaket: Tropfen auf dem heißen Stein

Scharfe Kritik üben Merkendorf und Nowak am sogenannten Corona-Aufholpaket, das die Bundesregierung vor zwei Wochen beschlossen hat. Von den zwei Milliarden Euro, die das Paket umfassen soll, würde nur ein Bruchteil in Herne ankommen, das sei ein Tropfen auf dem heißen Stein. Der Verwaltungsaufwand sei viel größer als der Nutzen. „Ich weiß weder, wie viel Geld meiner Schule zur Verfügung steht, noch welches Personal“, so Nowak. Auch wisse sie gar nicht, wie groß der Bedarf sei.

Merkendorf weist darauf hin, dass die Niederlande 16 Milliarden Euro für die Schüler in die Hand nehmen. Da man jetzt wie unter einem Brennglas sehen könne, was Schule benötige, sei es viel sinnvoller, langfristig das gesamte System Schule zu stärken. Stattdessen gebe es jetzt ein kleines Pflaster, das einen minimalen Ertrag bringe. Merkendorf plädiert dafür, mehr Schulsozialarbeiter einzustellen.

GEW plädiert für ein Umdenken: Persönlichkeit stärken statt Stoff pauken

Die Bildungswerkschaft GEW Herne weist darauf hin, dass es kaum vorstellbar erscheint, mit alten Mitteln und Zielvorgaben die dramatischen Anforderungen der pandemischen Situation für Kinder und Jugendliche auch nur im Ansatz bewältigen zu können.

Wer im Grundsatz versuche, weiterhin vor allem Lerninhalte und deren Messung und Prüfung ins Zentrum schulischen Handelns zu stellen, werde scheitern. Denn weil derartige Leistungserbringung ein sicheres Fundament von gelungenen Persönlichkeitsstrukturen benötigten, müsse schulisches Handeln dies zum Ausgangspunkt machen.

Nicht mehr vorwiegend „wie bekommen wir ausreichend Mathestoff in unsere Kinder“ dürfe Leitfrage sein, sondern „was benötigen Kinder und Jugendliche an Zutrauen, Orientierung, Selbstwert, Wohlbefinden, Stärke, Freude und Kreativität“, um überhaupt in der Lage zu sein, einerseits Fachinhalte zu meistern, andererseits mündig, kritisch und selbstsicher ins Leben zu gehen.