Herne. Massive psychische Probleme, Übergewicht und Gewalt in der Familie: Die Obfrau der Herner Kinderärzte ist bestürzt über die Folgen des Lockdowns.

Im ersten Lockdown waren es Kinder mit wunden, teils blutigen Händen, die in die Arztpraxen kamen. Kinder, die aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus zu häufig und zu gut ihre Hände gewaschen haben. Beim zweiten Lockdown sind die Probleme anders gelagert, aber sie seien noch viel schwerwiegender, warnen die Kinderärzte in Herne und Wanne-Eickel.

„Ich mache mir Sorgen um die Kinder in Herne“, sagt Dr. Anja Schulenburg, Obfrau der Kinderärzte in Herne und Wanne-Eickel. Und das, obwohl in ihrer Praxis an der Kreuzkirche in diesem Jahr viel weniger los sei als sonst zu dieser Jahreszeit. Grund ist eine der wenigen positiven Folgen des Lockdowns: „Die Kinder sind dieses Jahr deutlich weniger krank, haben weniger Infekte.“ Es habe etwa noch keinen einzigen Grippefall in diesem Jahr gegeben.

Herne: Bewegungsmangel und Depressionen nehmen stark zu

Dafür würden ihr zuletzt immer häufiger Kinder vorgestellt, die keinen Infekt haben, keine Lungenentzündung oder Masern. Es seien Folgen der Corona-Pandemie und des Lockdowns, die man den Kindern nicht immer auf den ersten Blick ansehe. „Die Nebenwirkungen des Lockdowns sind immens“, sagt Anja Schulenburg. „Die mangelnde Bewegung der Kinder ist wirklich eine Katastrophe, da muss dringend was passieren“, mahnt sie beispielsweise.

Dr. Anja Schulenburg spricht als Obfrau für alle Kinderärzte in Herne und Wanne-Eickel.
Dr. Anja Schulenburg spricht als Obfrau für alle Kinderärzte in Herne und Wanne-Eickel. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Teilweise klagten Kinder über Herzschmerzen, sie seien abgeschlagen, antriebslos. Manche Kinder gingen gar nicht mehr raus. Einige Kinder litten unter Depressionen, ihnen fehle die Tagesstruktur im Homeschooling. „Manche Kinder stehen morgens gar nicht mehr auf, haben den Tag-Nacht-Rhythmus verloren“, so die Kinder- und Jugendärztin. Andere Kinder seien aggressiv.

Gewalt in den Familien nimmt zu

Dieser Trend stimmt sie besonders traurig: „Die Gewalt in den Familien hat deutlich zugenommen.“ Sie habe noch nie so viele Jugendamtsanfragen zur Kontrolle wegen Kindeswohlgefährdung bekommen. „Was wir sehen sind auch massive psychische Probleme bei den Eltern, eine massive Überlastung“, sagt die Obfrau der Kinderärzte. Wenn man alles zusammen schaffen muss, gehe das auf Dauer nicht gut. Auch ältere Kinder seien zum Teil überfordert, weil sie sich mit um die jüngeren Geschwister kümmern müssten.

Eltern kämen auch, weil sie mit dem Medienkonsum ihrer Kinder nicht mehr umgehen könnten. „Es gibt eine massive Zunahme der Mediensucht“, beobachtet sie. „Es ist für Eltern kaum beherrschbar, weil die Kinder auch für die Schule den Laptop nutzen müssen.“ Während Jungen für dieses Thema schon vor Corona anfällig gewesen seien, was sich nun noch stärker auspräge, holten die Mädchen bei dieser Sucht im Lockdown deutlich auf. Ihre Freundinnen treffen dürften diese Teenager ja nicht mehr. „Was sollen sie sonst auch machen?“, fragt die Kinderärztin.

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Denn den Kindern und Jugendlichen werde derzeit so viel genommen. „Die Highlights der Schulzeit finden nicht statt“, sagt Schulenburg. Eine Klassenfahrt etwa sei viel mehr als ein paar Tage wegzufahren. Auch die Sportvereine sind seit Monaten dicht.

Regelmäßige Sportangebote für Kinder

„Die Kinder müssen sich dringend wieder bewegen“, fordert Schulenburg. Sie spricht sich dafür aus, dass Kinder zumindest draußen Sport machen dürfen und Angebote bekommen, angeleitet etwa von Sportstudenten, an den Wochenenden, in den Ferien, nachmittags auf dem Schulhof. Mindestens zweimal in der Woche solle es Schulsport geben. Vereine sollten subventioniert werden, damit die Beiträge geringer sind.

Und auch im Bereich Bildung müsse massiv investiert werden. Besonders wichtig sei – vor allem im Kita-Alter – die Sprachförderung. Aber auch bei den Schülern müsse verpasster Lernstoff nachgearbeitet werden. „Ich glaube, dass den Leuten nicht so klar ist, was den Kindern alles fehlt“, sagt Schulenburg. Eine befreundete Grundschullehrerin habe ihr beispielsweise gesagt, dass etwa ein Drittel der Kinder den Lernstoff nicht schafften. Für sie müsste es nett gestalteten Zusatzunterricht in den Ferien oder an Feiertagen geben. Es müsse in Bildung, Erziehung und Bewegung investiert werden – nicht in mehr Tablets, denn die förderten die gefährliche Mediensucht. „Die Politik muss richtig Geld in die Hand nehmen, um die Kinder aus der Misere zu holen.“

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