Essen. Nicht erst seit Corona leiden Kinder unter Bewegungsmangel, ergab eine Studie der Krupp-Stiftung. Folgen sind Übergewicht und Krankheit

Übergewichtig, träge, krank – auch in der Gesundheit zeigt sich eine soziale Kluft zwischen begüterten und armen Kindern und Jugendlichen. Eine zentrale Ursache für diese gesundheitlichen Unterschiede ist der wachsende Bewegungsmangel unter Kindern. 80 Prozent der Heranwachsenden erreichen nicht die von der Weltgesundheit empfohlenen 45 Minuten Bewegungszeit pro Tag, wobei Mädchen sich noch weniger bewegen als Jungen.

„Ich sehe 150 Kilogramm schwere Kinder und ich sehe auch, was das mit ihnen macht“, sagte die Sportmedizinerin Christine Joisten von der Sporthochschule Köln bei der Vorstellung des neuen „Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts“ am Donnerstag in der Villa Hügel in Essen. Der zunehmende Bewegungsmangel verursache viele  gesundheitliche Probleme, „Diabetes im Kindesalter nimmt zu“, führte Joisten aus. Zugleich sinke die Ausdauerleistungsfähigkeit, diese sei aber ein entscheidender Faktor für die spätere Gesundheit. Fehlende Bewegung während der  Coronapandemie könnte diese Probleme weiter verschärfen.

42,5 Stunden pro Woche vor dem Bildschirm


Die Krupp-Stiftung hatte die wissenschaftliche Bestandaufnahme des Kinder- und Jugendsports zum vierten Mal in Auftrag gegeben und leitet daraus Handlungsempfehlungen für Politik, Sportverbände, Vereine und Schulen ab. Die zentralen Kapitel des 430 Seiten starken Berichts gliedern sich unter die Kernthemen Gesundheit, Leistung und Gesellschaft.

Der Essener Sportmediziner Werner Schmidt, Mitherausgeber des Berichts, legte den Finger in die Wunde. „Wir sind hier im Ruhrgebiet“, sagte er, da könne man offen reden. Die finanzielle Armut gehe einher mit gesundheitlichen Problemen und mit Bildungsarmut. So würden Jugendliche laut einer Studie im Durchschnitt 42,5 Stunden in der Woche mit digitalen Medien verbringen, „das hat Auswirkungen auf den Sport“, so Schmidt. Erkenntnisse zum „Sitzverhalten“ beim Medienkonsum und dem daraus resultierenden körperlichen Folgen seien alarmierend.

Zu wenig Sport in der Schule

In Kitas, Kindergärten und in der Ganztagsbetreuung werde zu wenig Wert auf Bewegungsanreize gelegt. „Es kann sein, dass ein Kind bis zum sechsten Lebensjahr auf Erzieherinnen trifft, die kein Verständnis für die Bedeutung von Sport haben“, erklärte er. Dabei sei die Zeit bis zum 10. Lebensjahr entscheidend. „Vier Jahre Häschen hüpf -- das ist zu wenig“, so Schmidt. Wegen des Lehrermangels falle an Schulen der Sportunterricht oft aus oder werde von fachfremden Lehrkräften unterrichtet.

Während zwei Drittel der Kinder aus der Mittel- und Oberschicht Mitglied in einem Sportverein seien, sinke die Quote unter den benachteiligten Kindern seit Jahren auf nunmehr nur noch 24 Prozent. Schmidt: „Je teurer das Sportangebot, desto stärker wirkt sich das auf die soziale Ungleichheit aus.“ Erschreckend sei zudem, dass immer weniger Kinder ausreichende Schwimmfähigkeiten hätten.

Bewegung fördert auch geistige Fähigkeiten

Bewegung ist Medizin, da waren sich alle Fachleute bei der Präsentation des Berichts im feinen Gartensaal der Kruppvilla einig. Regelmäßiger Sport wirke sich auch positiv auf die Sprachentwicklung und die schulischen Fähigkeiten aus und stärke das Selbstbewusstsein. Schmidt forderte mehr Erzieher mit Sportkenntnissen in den Kitas, zusätzliche Bewegungskindergärten, längere Spielpausen zwischen den Unterrichtsstunden sowie die Förderung von Vereinsmitgliedschaften.

Laut Thomas Kempf, Vorstandsmitglied der Krupp-Stiftung, soll der Sportbericht dazu auffordern, die gesellschaftliche Rolle des Sports mit Fragen der Gesundheit und der Leistungsorientierung zu verbinden. Der Rückgang der Leistungsorientierung im Kinder- und Jugendsport ist nach Ansicht des Kölner Sportwissenschaftlers Christoph Breuer ein zentrales Ergebnis des Berichts.

Integration auf dem Fußballplatz 

„Es geht dabei nicht um Punkte oder Sekunden, sondern um die Anstrengungsbereitschaft der Jugend.“ Sport sei mehr als Bewegung, er bedeute auch Wettbewerb, Erfolg, Teamfähigkeit, Fairplay und Wertevermittlung. Hier würden zentrale  Grundlagen für unser gesellschaftliches Zusammenleben vermittelt. „Dennoch verzeichnet die leistungssportliche Förderung in Deutschland in den letzten zehn Jahren stark sinkende Zahlen.“ Breuer forderte daher eine Ausbildungsoffensive für Kinder- und Jugendtrainer.

Für die Bundesregierung sei der Bericht ein wichtiger Ratgeber, betonte Stephan Mayer (CSU), Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Auch er hob den sozialen Aspekt des Sports hervor: „Nirgendwo gelingt Integration so unkompliziert wie im Breitensport“, so Mayer. Für ihn sei es ein gelungenes Beispiel für Integration, „wenn sich auf dem Fußballplatz ein Syrer und ein Iraner auf Deutsch anpflaumen“.

Viele Sportler berichten von sexueller Gewalt

Er verwies aber auch auf Auswüchse wie Doping, Schmerzmittel, Manipulationen oder sexuelle Übergriffe. „37 Prozent der Spitzensportlerinnen und –sportler geben an, Opfer von sexualisierter Gewalt geworden zu sein“, so Mayer. Die Bundesregierung werde die Förderung von Sportfachverbänden deshalb stärker an Konzepte gegen sexuelle Gewalt knüpfen.

>>>> Eine Initiative der Krupp-Stiftung

Der diesjährige Kinder- und Jugendsportbericht führt die bisherige Untersuchungsreihe fort, die erstmals 2003 durch die Krupp-Stiftung ins Leben gerufen wurde. Mit der Berichtserie setzte die Stiftung einen neuen Standard in der Sportforschung.

„Für uns ist die Veröffentlichung des Berichts eine Herzensangelegenheit“, betonte Ursula Gather, Vorsitzende des Kuratoriums der Krupp-Stiftung. „Der Bericht rückt die Bedeutung von Sport, Spiel und Bewegung für die körperliche und geistige Entwicklung in den Fokus und macht auf den derzeitigen Handlungsbedarf aufmerksam.“