Herne. Künstliche Intelligenz, Algorithmen, Digitalisierung: Welchen Nutzen sie haben können, erklärt der gebürtige Herner Reiner Kurzhals im Interview.
Künstliche Intelligenz (KI), Algorithmen, Digitalisierung – all diese Begriffe begegnen uns immer wieder und bleiben doch eher abstrakt. Welchen Nutzen sie haben können und welche Potenziale in ihnen schlummern, darüber sprach Reiner Kurzhals , Professor an der Münster Business School, der mit dem Deutschen Preis für Künstliche Intelligenz im Bereich Anwendung ausgezeichnet wurde, mit Jennifer Humpfle .
Professor Kurzhals, Sie sind gebürtiger Herner, leben aber schon lange in Münster. Was führte Sie dorthin?
Nach meinem Abitur am Otto-Hahn-Gymnasium – wo mein Mathelehrer Herr Stür mich sehr gut auf mein berufliches Leben vorbereitet hat, habe ich in Dortmund angefangen, Statistik zu studieren. Mein Vater war Steiger auf der Zeche. Ich war der erste aus der Familie, der studierte. In der Mitte meines Studiums bin ich mit einem DAAD Stipendium in die USA gewechselt. Eigentlich nur für ein Jahr, aber weil es mir so gut gefallen hat, habe ich mit einem Auslands-Bafög verlängert. Nach dem Studium hatte ich in New York meine erste Anstellung bei einem deutschen Unternehmen (die ehemalige Hoechst AG, heute Sanofi-Aventis). Sechs Jahre lang war ich für sie im Bereich Arzneimittelforschung weltweit unterwegs. Dann hat es mich gereizt, in die Unternehmensberatung zu gehen. Also ging ich zu Roland Berger nach München. Wenn man als Unternehmensberater mit weniger als 80 Stunden die Woche nach Hause geht, hat man es gut erwischt. Als ich Vater wurde, habe ich mich aus dieser Rolle verabschiedet.
Und dann ging es an die Hochschule?
Für fünf Jahre an die FH Gelsenkirchen. 2005 bin ich nach Münster gezogen.
Haben Sie noch Verbindungen zur Heimat?
Ja, ich bin regelmäßig in Herne. Meine Mutter lebt dort und einer meiner Brüder, sowie Neffen und Nichten.
Statistik klingt für viele dröge. Was ist das Besondere an dieser Disziplin?
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Nach dem Abi und der Bundeswehr war ich etwas ziellos. Obschon ich kein gutes Abitur gemacht habe, fiel mir Mathe immer einfach. An der Uni Dortmund habe ich mich erkundigt, wie so ein Mathestudium aussieht. Da sagte man mir: Wir haben hier etwas Besonderes, am Fachbereich Mathe haben wir noch den Fachbereich Statistik. Auf meine Frage, was das ist, fielen die beiden Kernsätze, die mein berufliches Leben verändert haben. Der eine lautete: ,Die Statistik ist innerhalb der Mathematik das anspruchsvollste Gebiet.‘ Ich habe drei Brüder, da ist bei mir direkt der Wettbewerbsfunke übergesprungen. Der zweite Satz hat es vollendet: ,Die Statistik ist in der Wirtschaft am anwendungsfreudigsten.‘ Da war ich Feuer und Flamme und habe mich sofort eingeschrieben.
Sie sind nicht nur Professor, sondern auch Unternehmer. Das Westphalia DataLab (WDL) ist bereits Ihr zweites erfolgreiches Start-Up...
An der Fachhochschule kommen – anders als an der Uni – alle Professoren aus der Wirtschaft. Das FH-Präsidium fordert, dass jeder Professor auch in der Wirtschaft aktiv ist. Man soll nicht nur Lehre machen, sondern Wissenschaft und Industrie gut untereinander vernetzen. Ich habe als Professor nebenher immer für meine alten Firmen gearbeitet. Irgendwann wurde das aber so viel, dass ich Studenten gefragt habe, ob die Lust haben, etwas dazu zu verdienen. So fing das an. Dann waren die mit dem Studium fertig, und ich sagte, eigentlich wäre es praktisch, jetzt eine Firma zu gründen. Das war 2010 die GmbH „4tree“, die später von McKinsey gekauft wurde. 2017 gründete ich mit dem Unternehmer Felix Fiege WDL.
Was ist der Schwerpunkt ihrer Unternehmen?
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Eine Kernkompetenz von mir ist die statistische Algorithmen-Programmierung, die intelligente Datenanalyse. Wenn ich Algorithmen sage, meine ich eigentlich, ich baue Software-Datenprodukte. Das in Gründung befindliche deepeye.ai ist genau so etwas. Wir versuchen aus dem kleinen beschaulichen Münster dem Vorreiter „DeepMind“, das Google gehört, Konkurrenz zu machen.
Was kann deepeye?
Die Vision ist, eine KI-Plattform zu bauen, die auf hunderttausenden Augenbildern, sogenannten OCT-Aufnahmen, basiert. Sie ist eine Assistenzhilfe für den Augenarzt. Er kann Aufnahmen über unseren Algorithmus schicken – der in einer sicheren Cloud hängt – und erhält einen treffsicheren Vorschlag, wie die Diagnose lautet und wie die Behandlung aussehen soll. Der Arzt wird niemals ersetzt werden. Das können wir nicht und das wollen wir nicht. Aber wir verschaffen ihm mehr Zeit.
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Damit haben Sie anscheinend einen Nerv getroffen.
Wir haben im Grunde eine Revolution in der Augenheilkunde geschafft. Was wir gemacht haben, hat es bislang auf der Welt noch nicht gegeben. Dafür haben wir den Deutschen KI-Preis erhalten. Es gibt für bildgebende Verfahren in der Medizin viele Anwendungsfelder und da stürzen wir uns gerade drauf. In Europa gibt es nur ganz wenige Unternehmen, die diesen Weg beschreiten. Zum Beispiel die Firma Vara bzw. Merantix aus Berlin, die als erste einen Algorithmus als medizinisches Produkt zugelassen haben. Wir wollen die zweiten sein.
Gibt es Beispiele für tägliche Anwendungen von KI?
Wir haben einen Kunden, für den wir mit KI die Lkw-Flotte um 25 Prozent reduziert und damit den CO 2 -Ausstoß erheblich verringert haben. Wie? Indem wir Fahrwege optimal berechnen. Ein anderer Kunde ist aus der Supermarkt-Branche. 50 Prozent der Lebensmittel mit Mindesthaltbarkeitsdatum werden weggeschmissen. Wir reduzieren das signifikant, weil wir in der Lage sind, die Nachfrage zu prognostizieren. Innerhalb weniger Wochen konnten wir diesen Wert peu à peu um fünf Prozent senken. Ich bin mir sicher, dass wir ihn in den nächsten fünf Jahren auf 25 Prozent senken können.
In welchen Lebensbereichen wird KI künftig eine Rolle spielen?
Wo wir einen riesigen Bereich sehen, ist das E-Commerce-Business. In Zeiten von Corona wird viel online bestellt. Da muss man schauen, wie man Lieferwege optimiert. Mobilität in Städten ist ein großes Thema. Ich würde fast behaupten, dass die KI in jedem Lebensbereich , sei es Freizeit, Beruf, Verkehr, Tourismus in den Anfängen steckt. Das Problem ist, dass es nicht genügend Experten gibt. Das ist der Grund, warum es das WDL gibt. Wir bauen Produkte im Baukasten-Prinzip, die jeder einfach nutzen kann.
Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre?
Das fragen mich meine Frau und Kinder auch häufig. (lacht). Ich wünsche mir privat vor allem Frieden. Beruflich würde ich mich unheimlich freuen, wenn die Öffentlichkeit die wirklich sehr großen Vorzüge und positiven Möglichkeiten im Einsatz von KI-Technologien sieht und sie nicht verteufelt. Außerdem wünsche ich mir, dass sich Schüler und Studenten mehr mit diesen Technologien auseinandersetzen und sich nicht von Rückschlägen abschrecken lassen.
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