Herne. Der Herner Historiker und Publizist Ralf Piorr legt ein Buch über das Jahr 1933 aus lokaler Sicht vor. Was dieses Chronik so besonders macht.
„Sonntag, 01. Januar. In der Neujahrsnacht kommt es in Herne und Wanne-Eickel zu blutigen Schlägereien. Oftmals ist neben Alkohol politischer Zwist Anlass für die Raufereien. Die gewaltsamste Auseinandersetzung findet in der Zechensiedlung von Pluto und Unser Fritz statt, wo sich um Mitternacht etwa 100 KPD-Mitglieder versammeln und unter Absingen der Internationalen und ,Rotfront’-Rufen durch die Straßen ziehen.“
Nazi-Terror nimmt im Lauf des Jahres zu
![Ralf Piorr (54) ist Historiker, Autor und Mitarbeiter der Herner Stadtverwaltung. Ralf Piorr (54) ist Historiker, Autor und Mitarbeiter der Herner Stadtverwaltung.](https://img.sparknews.funkemedien.de/230903260/230903260_1605192845_v16_9_1200.jpeg)
Mit diesem Eintrag beginnt Ralf Piorrs Chronik „1933. Der Weg in die Diktatur in Herne und Wanne-Eickel“. Ein Buch, das durch seinen in Herne bisher einzigartigen Ansatz neue, andere und spannende Einblicke in das Jahr der Machtergreifung ermöglicht. In diesem Mammutprojekt führt Piorr tagebuchartig Ereignisse vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1933 auf, die er inhaltlich mit der Umschreibung „Brutalität und Banalität“ auf den Punkt bringt.
Im Mittelpunkt steht die systematische Machtaneignung durch die Nazis und der im Laufe des Jahres in Herne und Wanne stark zunehmende Terror: Fackelzüge und Aufmärsche werden ebenso dokumentiert wie die Drangsalierung jüdischer Geschäftsleuten oder die systematische Ausschaltung politischer Gegner und der freien Presse. Gleichzeitig wird an mehreren Stellen deutlich, wie willfährig sich große Teile der Gesellschaft den Nazis unterordneten und wie schnell ein Prozess der Entsolidarisierung einsetzte. Ein Eindruck, der sich durch die Einträge über Akte des Widerstands gegen die Gleichschaltung noch verstärkt.
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![Nach Emil Dovifat ist im Journalistenzentrum Herne auch ein Raum benannt. Der Mitbegründer der Publizistikwissenschaft in Deutschland hat aber eine „braune Vergangenheit“. Nach Emil Dovifat ist im Journalistenzentrum Herne auch ein Raum benannt. Der Mitbegründer der Publizistikwissenschaft in Deutschland hat aber eine „braune Vergangenheit“.](https://img.sparknews.funkemedien.de/228470415/228470415_1582115880_v1_1_200.jpeg)
Die „Banalität“ bildet Piorr mit Einträgen über das „normale“ Geschehen in beiden Städten ab. Um den Andrang im Sommerbad an der Bergstraße geht es darin beispielsweise. Um einen „jungen Burschen“, der in Wanne wegen einer Wetteinsatzes einen 70 Meter hohen Schornstein hinaufklettert. Oder um einen spektakulären Verkehrsunfall auf der Flottmannstraße mit einem Fuhrwerk, bei dem ein Pferd durchgeht und sich eine Radfahrerin schwer verletzt.
![Eine Anzeige für einen Filmvorführung im Mai 1933 in der Herner Schauburg. Eine Anzeige für einen Filmvorführung im Mai 1933 in der Herner Schauburg.](https://img.sparknews.funkemedien.de/230903262/230903262_1605183323_v16_9_1200.jpeg)
Vier Jahre Vorlauf mit umfassender Recherche
Warum diese ungewöhnliche Komposition? „Ich will die Leserinnen und Leser auch unterhalten“, sagt Piorr. Als einen Bezugspunkt nennt er den Autor Florian Illies, der mit seinem Besteller „1913“ die Geschichte eines „ungeheuren Jahres“ ebenfalls in Form von Tagebucheinträgen erzählt hat. Für Herne und auch für andere Ruhrgebietsstädte gebe es bisher nichts Vergleichbares wie „1933“, sagt der Stadtmitarbeiter.
Recherchen der DGB-Geschichtswerkstatt
Die Chronik 1933 ist ein Projekt der DGB-Geschichtswerkstatt. An der Recherche beteiligten sich neben Ralf Piorr: Norbert Arndt, Norbert Bartsch, Rolf Dymel, Alina Gränitz, Jörg Höhfeld, Udo Jakat, Dirk Jessen, Guntram Lange, Flemming Menges, Ulrich Objartel und Birte Wolmeyer.
Finanziell unterstützt wurde das Projekt u.a. vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ und der Kulturinitiative Herne. Das Buch ist ab sofort im Herner Buchhandel erhältlich.
Der Aufwand bis zur Veröffentlichung war allerdings riesig: Vier Jahre lang hat Piorr gemeinsam mit der DGB-Geschichtswerkstatt (siehe Info-Kasten) für dieses Werk recherchiert: „Allein 1500 Zeitungsausgaben wurden gesichtet.“ Ausgewertet worden sei zudem eine Fülle von Aktenbeständen, Büchern, Vereins- und Festschriften, Interviews, Fotografien und Plakaten. Diese Bandbreite spiegelt sich auch im Buch wider, das durch zahlreiche Fotos sowie Abbildungen auch von Berichten und Kleinanzeigen aus den (damals sieben) Tageszeitungen illustriert worden ist.
Was aus 19 Opfern, Tätern und Profiteuren der NS-Zeit wurde
Die Chronik wird von Piorr in einen passenden Rahmen eingefügt. Im Prolog analysiert er ausführlich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation vor 1933 mit besonderem Augenmerk auf 1932, „dem Jahr der Wende“. Und im Epilog schildert er in Kurz-Beiträgen, was aus 19 Opfern, Tätern und Profiteuren der NS-Zeit in Herne und Wanne-Eickel geworden ist - von Karl Hölkeskamp und Ludwig Steil über Otto Heinrich Flottmann und Hermann Meyerhoff bis hin zu Heinz Rühmann.
![Die Chronik des Jahres 1933 in Herne und Wanne-Eickel ist ab sofort im Herner Buchhandel erhältlich. Die Chronik des Jahres 1933 in Herne und Wanne-Eickel ist ab sofort im Herner Buchhandel erhältlich.](https://img.sparknews.funkemedien.de/230903254/230903254_1605183593_v16_9_1200.jpeg)
Was dieses Buch auch leisten kann, das schildert der einst in Herne und heute in Berlin tätige WAZ-Redakteur Kai Wiedermann in seinem Vorwort: „Wer die tagebuchartigen Einträge in der Chronik 1933 sorgfältig liest, wird danach mit einem anderen Blick durch die Stadt gehen.“ Und ganz zum Schluss seines Buches schlägt Ralf Piorr noch eine Brücke in die Gegenwart, indem er dem „Bündnis Herne“ für das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Rechts dankt.
Grippe-Epidemie, Nazi-Terorr, Eintopf-Sonntag: Auszüge aus der Chronik
Freitag 27. Januar. Aufgrund der grassierenden Grippe-Epidemie werden in Herne alle 24 Volksschulen, das Oberlyzeum und die Berufsschule für acht Tage geschlossen.
Dienstag, 31. Januar . Am Abend formiert sich die NSDAP auf dem Wanner Marktplatz zu einem Fackelzug durch die Stadt. … Als der Fackelzug die Hindenburgstraße erreicht, bildet sich eine etwa 1.000 Mann starke Gegendemonstration der Kommunisten … . In Höhe der Moltkestraße kommt es entlang der Sperrketten zu Rangeleien, Pflastersteine fliegen durch die Luft, aus einem Haus wird auf die Polizei geschossen. Diese reagiert mit Schreckschüssen und mit scharfer Munition. Fünf Personen erleiden Durchschüsse und werden in das St. Anna-Hospital eingeliefert.
Montag 06. Februar. Auf der Hindenburgstraße ist das Ladenschild des Textilgeschäfts von Lina Levy zertrümmert worden. Die Polizei nimmt den Vorfall auf. Es ist der erste gewaltsame Übergriff auf ein jüdisches Geschäft in Wanne-Eickel nach der Machtübernahme.
![Auch das Textilhaus der Gebrüder Rindskopf auf der Bahnhofstraße 27-29 attackierten die Nazis 1933 wegen des jüdischen Hintergrunds der Eigentümer. Auch das Textilhaus der Gebrüder Rindskopf auf der Bahnhofstraße 27-29 attackierten die Nazis 1933 wegen des jüdischen Hintergrunds der Eigentümer.](https://img.sparknews.funkemedien.de/230903258/230903258_1605205333_v16_9_1200.jpeg)
Sonntag 19. März . Richtfest beim SC Westfalia Herne: Für Klubhaus und Umfassungsmauer wurden über 120.000 Ziegelsteine verbraucht. Der Vorsitzende Hermann Kracht hebt in seiner Rede den Eifer der Mitglieder und des Freiwilligen Arbeitsdienstes hervor. Das Stadion für 30.000 Zuschauer soll spätestens in einem Jahr fertig werden.
Donnerstag, 13. April. Auf der Holsterhausenerstraße kommt es gegen zehn Uhr morgens zu einem Massensturz von zehn Radfahrern, die sich auf einem Feiertagsausflug Richtung Herne befinden. Auf dem sehr schlechten Straßenteil in Nähe der katholischen Kirche stürzt der erste in ein Schlagloch und bringt fast alle nachfolgenden Fahrer zu Fall.
Donnerstag, 27. April. Unter der Überschrift „Stadtparlament marxistenfrei!“ berichtet die WEZ von der ersten Arbeitssitzung der neuen (Wanner) Stadtverordnetenversammlung .... Die neun Abgeordneten der KPD sind von der Sitzung ausgeschlossen und befinden sich in Schutzhaft, die vier SPD-Abgeordneten haben nach dem brutalen Vorgehen der Nationalsozialisten in den letzten Wochen ihre Mandate niedergelegt.
Montag, 1. Ma i. Der Polizeihundeverein Wanne-Eickel 07 weiht auf seinem Übungsplatz an der Recklinghauser Straße die erste „Adolf-Hitler-Eiche“ der Stadt ein.
![Propaganda: Die Nazis warben am Bahnhof für die Reichstagswahl am 12. November 1933. Propaganda: Die Nazis warben am Bahnhof für die Reichstagswahl am 12. November 1933.](https://img.sparknews.funkemedien.de/230903256/230903256_1605205223_v16_9_1200.jpeg)
Samstag 17. Juni. Am Abend erfolgt die als öffentliches Schauspiel inszenierte Verbrennung des „volksfremden, undeutschen Schrifttums“ auf dem Adolf-Hitler-Platz.
Montag, 18. September. Der Zahnarzt Dr. Ernst Guttmann wandert nach Palästina aus. Er hatte auf der Bahnhofstraße 57/59 eine Praxis betrieben … . Nach dem 30. Januar 1933 wurden ihm aus rassischen Gründen die Zulassungen und damit seine Existenzgrundlage entzogen.
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Sonntag, 01. Oktober . Mit großem propagandistischem Aufwand wird der erste Eintopf-Sonntag als ein Zeichen der Solidarisierung mit der Volksgemeinschaft eingeführt. In allen Haushalten soll an diesem Tag nur Eintopf gegessen werden. Die Differenz zwischen den Kosten für das sonst übliche Sonntagsessen und dem für Eintopf nötigen Aufwand wird generell mit 50 Pfennig veranschlagt und von den von Tür zu Tür gehenden Helfern der NSDAP kassiert. Die gespendete Summe kommt dem Winterhilfswerk zugute. In Wanne ergab die Sammlung einen Betrag von 7500 RM.
Sonntag, 12. November. Bei der Reichstagswahl erreicht die Liste der NSDAP (in Herne) 90 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Sonntag, 31. Dezember. Im fernen Dresden schreibt Victor Klemperer in sein Tagebuch: „Das historische Erlebnis dieses Jahres ist unendlich bitterer und verzweiflungsvoller, als es der Krieg war. Man ist tief gesunken.“
„1933. Der Weg in die Diktatur in Herne und Wanne-Eickel“ von Ralf Piorr, adhoc-Verlag, 304 Seiten, 25 Euro.
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