Herne. Mit 27 Jahren entschied sich Sebastian Gorus dazu, einer alten Tradition zu folgen – und ging auf Wanderschaft. Was er in drei Jahren erlebt hat.
Es ist eine alte Handwerker-Tradition: die Walz. Im Mittelalter noch die Voraussetzung für die Zulassung zur Meisterprüfung, ist die Wanderschaft heutzutage nicht mehr allzu verbreitet unter den Handwerkern .
Sebastian Gorus aber hat es getan: Er war genau drei Jahre und sechs Monate auf Wanderschaft. Der damals 27-jährige Gelsenkirchener hatte seine Lehre beim Dachdeckerbetrieb Diekmann in Herne abgeschlossen, als er sich dazu entschied, auf die Walz zu gehen.
Was ihn damals getrieben hat? „Irgendetwas hat mich gerufen – aber das muss ganz groß gewesen sein“, sagt der heute 30-Jährige. Denn zu der Zeit ist er in einer achtjährigen Beziehung, die er für die Wanderschaft aufgibt. Er wollte die Welt sehen, sagt er. „Und ich wollte nicht mit 27 schon im Hamsterrad gefangen sein.“ Viele seiner Freunde hätten zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, was die Walz überhaupt ist, „jetzt nehmen sie jeden mit, der am Straßenrand wartet.“
Handwerker reist einmal quer durch Europa
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Gorus beginnt seine Reise in England, reist weiter in den Norden nach Dänemark, Norwegen, weiter nach Tschechien, Italien und in viele weitere europäische Länder, bis er schließlich wieder in Deutschland landet. Mindestens drei Jahre und einen Tag müsse man unterwegs sein, erklärt er. Das war auch sein ursprünglicher Plan, „doch dann kam Corona dazwischen und ich bin spontan noch einige Monate länger in der Schweiz geblieben.“
Die Entscheidung, in welches Land es als nächstes geht, trifft er spontan. Mitgenommen wird er von fremden Menschen, er reist nur per Anhalter. „Das hat eigentlich gut geklappt, nur manchmal musste ich auch schon mal einen Tag warten, bis jemand angehalten hat.“ Mitgenommen wird er von ganz unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Fahrzeugen: Vom teuersten Porsche bis zum alten Corsa ist alles dabei.
Im deutschsprachigen Raum findet er schnell Arbeit, „im Ausland war das schon schwieriger“. Um überhaupt etwas Geld zu verdienen, bleibt er nicht nur bei seinem Kernhandwerk, sondern erledigt jede Arbeit, die anfällt. „Ich habe Ikea-Möbel aufgebaut, als Imker gearbeitet und auch mal Toiletten geputzt.“ Eines seiner Highlights: Er durfte als Restaurator in der Richard-Wagner-Oper in Bayreuth mitarbeiten.
Sebastian Gorus wird am Genfer See überfallen
Seine Unterkünfte muss er sich selbst suchen, nur ab und an kommt er bei einem seiner Meister unter. Ansonsten schläft er in Hallen, Schrebergärten oder auch mal am Strand. Doch das ist nicht ganz ungefährlich: Am Genfer See wird er überfallen. „Zwei Jugendliche haben versucht, mich auszurauben – mit meinem Wanderstock habe ich die beiden verjagt.“
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Alles, was er während der Wanderschaft dabei hat, trägt er an seinem Körper. Einen Sack für seine Schlafutensilien, einen mit der Arbeitskluft und einen mit Wechselsachen. An seinem Ohr hängt ein goldener Ohrring. „Den trägt man, um im Notfall seine Beerdigung bezahlen zu können.“
Wandergeselle muss Voraussetzungen erfüllen
Nicht jeder kann einfach so auf Wanderschaft gehen, einige Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Wandergesellen dürfen maximal 30 Jahre alt, ledig, noch kinderlos und schuldenfrei sein. Weitere Voraussetzung: eine abgeschlossene Lehre, nur Gesellen können auf Wanderschaft gehen.
In der Öffentlichkeit muss der Wandergeselle immer seine Kluft tragen. Sein Gepäck tragen sie ausschließlich auf der linken Schulter.
Welches Land er am schönsten findet, kann er nicht sagen. „Es sind die Situationen, die das Land schön machen.“ Und so berichtet er von einer Situation in Spanien: Um 23 Uhr wird er mitten in einem Dorf „ausgesetzt“. Hungrig und durstig klopft an die nächste Tür, „die Bewohner haben direkt gesehen, dass ich nur essen und schlafen will“. Die Ziegenbauern geben ihm eine große Schüssel mit Ziegenkäse. „Ich hatte vorher noch nie in meinem Leben diesen Käse probiert – aber dort hatte ich ihn in ganz kurzer Zeit aufgegessen.“
Wie lange er in welchem Land war, kann er im Nachhinein nur schätzen. Denn er ist ohne Uhr und ohne Handy unterwegs. Doch es ist nicht die Technik, die er während der drei Jahre vermisst hat. Sondern: „Schwarzbrot! Als ich wieder zuhause war, habe ich mir erstmal ein Schwarzbrot geschmiert.“ Noch eine Wanderschaft darf er nicht machen, trotzdem steht für ihn fest: „Ich will so schnell wie möglich wieder weg.“ Kanada ist sein nächstes Ziel. Doch zunächst wird er nun als Geselle bei der Dachdecker-Firma Diekmann arbeiten, „das stand schon vor meiner Reise fest.“
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