Herne. Der Herner Karsten Stieneke war einst mit der Ruhrpott AG eine große Nummer in der HipHop-Szene. Nun kommt ein Film über die Band ins Kino.

1998 veröffentlichte die Formation Ruhrpott AG (RAG) ihr Debüt „Unter Tage“. Welche Bedeutung dieses Album für den HipHop hatte und wie das Quartett mit den zehn Songs der deutschen Szene einen Stempel aufdrückte, legt die neue Kino-Dokumentation „We Almost Lost Bochum“ frei. Ein Herner spielt darin eine ganz besondere Rolle: Karsten Stieneke alias Aphroe.

Dreh an Originalschauplätzen in Herne

Als seinen „Lieblingsrapper“ bezeichnet Marteria - hier 2019 bei einem Auftritt in Hamburg - den Herner Aphroe.
Als seinen „Lieblingsrapper“ bezeichnet Marteria - hier 2019 bei einem Auftritt in Hamburg - den Herner Aphroe. © Roland Magunia

Mehrere deutsche HipHop-Größen zollen dem Rapper in der 100-Minuten-Doku maximalen Respekt. „Aphroe war eigentlich immer mein Lieblingsrapper“, sagt Marteria. Curse bezeichnet ihn als „krasser Wegbereiter“ und „Pionier“. Und Stephan Szillus, einstiger Chefredakteur des führenden (und inzwischen eingestellten) HipHop-Magazins Juice stellt fest: „Aphroe war einer der begnadetsten MCs, die man in Deutschland je gesehen hat.“

In Interview-Sequenzen und Drehs an Originalschauplätzen auch in Herne spüren die Filmemacher Julian Brimmers und Benjamin Westermann die Geschichte von Aphroe und der anderen drei RAG-Mitglieder nach. So erzählt Karsten Stieneke vor der Kamera, wie er am Grenzweg und später an der Vinckestraße aufwuchs - der Vater Elektroinstallateur, die Mutter Hausfrau.

Im Oberhausener Keller erste Songs aufgenommen

Er berichtet, wie er als Sechsjähriger Musik erstmals bewusst wahrgenommen und schon als Neunjähriger HipHop-Tracks gehört habe. Fast ehrfurchtsvoll schildern Wegbegleiter, wie ihnen Karsten, ein 16-jähriger „totaler Nerd“, im angesagten Bochumer Club „Logo“ auffiel: „Egal welcher Song lief - er hat ihn mitgerappt“, erinnert sich Mr. Wiz von RAG alias Gabriel Saygbe. In einem Oberhausener Keller nahmen Saygbe und Stieneke unter dem Namen Raid 1993 selbst erste Tracks auf.

Nimm 3

Drei Songs empfiehlt Karsten Stieneke alias Aphroe als Einstieg in den RAG-Kosmos.

Zunächst: „Kopf Stein Pflaster“. „Unser bekanntester Song, dazu gab es auch ein Video. Das war unser Durchbruch“, sagt er.

Außerdem: „Ohne Gewähr“ - „schwere Kost mit tiefen Lyrics“. Und vom zweiten Album empfiehlt er „Nackte Stadt“. „Ein ziemlich abgedrehter neunminütiger Konzept-Song aus der Perspektive unterschiedlicher Stadtbewohner.“

In Herne habe er damals in einer Clique mit 14,15 Leuten abgehangen, doch eine echte HipHop-Szene habe es nicht gegeben, berichtet der heute 45-jährige Karsten Stieneke im Gespräch mit der WAZ. „Was ich gesucht habe, habe ich in Herne nicht gefunden.“ Er habe sich das Ruhrgebiet erschlossen und in Bochum, Dortmund oder Oberhausen Leute kennengelernt, „die auf einer ähnlichen Welle funkten und kreativ waren“.

Nach „Unter Tage“ begann der Ausverkauf

Karsten Stieneke alias Aphroe Ende der 90er-Jahre bei einem TV-Auftritt mit RAG.
Karsten Stieneke alias Aphroe Ende der 90er-Jahre bei einem TV-Auftritt mit RAG. © MIndjazz Pictures

Mitte der 90er-Jahre schlug die Geburtsstunde der Ruhrpott AG, als sich Raid mit dem Duo Filo Joes - die Rapper Galla und Pahel - zur RAG vereinigte. Kurz darauf brach Stieneke die Zelte in Herne endgültig ab und zog nach Witten in eine Band-WG. Mit dem Erscheinen von „Unter Tage“ ging es dann richtig los: mit 20.000 verkauften Alben, Konzerten vor 2000 Menschen und TV-Auftritte bei Musiksendern wie Viva und MTV. An diesem Punkt kippt die Erfolgsgeschichte.

Nicht nur bei RAG, so die Lesart in „We Almost Lost Bochum“, denn: Underground-Gruppen der HipHop-Szene seien mit großen Vorschüssen („Wahnsinnsgeld“) vertraglich geködert worden. Die Arbeit an der zweiten Platte „Pottential“ im Jahr 2000, sinniert Stieneke in der Doku, sei dann schon eher so eine Art „Job-Ding“ gewesen. Hinzu kamen zwischenmenschliche Problem. „Es hat sich auseinandergelebt“, so Stieneke zur WAZ. Das Album floppte, jeder ging fortan eigene Wege.

Tragischer Tod nimmt breiten Raum ein

Aphroe - er war inzwischen über Bochum in Köln gelandet - nahm 2010 die EP „Kleiner Mann“ und dann das Album „90“ auf: eine Zusammenstellung mit US-HipHop-Klassikern, die er mit eigenen (deutschen) Reimen veredelte. 2018 kam es für eine Geburtstags-Tour (20 Jahre „Unter Tage“) nach 15 Jahren RAG-Bühnenabstinenz noch einmal zur Wiedervereinigung, allerdings nur zu dritt. (Michael) Galla war zwischenzeitlich obdachlos geworden und starb im August 2011.

Der tragische Tod nimmt großen Raum in „We Almost Lost Bochum“ ein. Und auch sonst blenden die Regisseure Tiefen der Band-Geschichte und bei den Protagonisten nicht aus. „Ungeschminkt, ungeschönt“ - so bewertet Karsten Stieneke gegenüber der WAZ den Film. „Er zeigt, wie es war, lässt dabei aber einiges offen.“ Trotzdem sei er glücklich mit der Doku. Und die bisherigen Reaktionen seien sehr positiv: „Das streichelt die alte Künstlerseele.“

Premiere bei den Hofer Filmtagen

Das Filmplakat zu „We Almost Lost Bochum“. Der Titel ist eine Referenz an den Songklassiker „We Almost Lost Detroit“ von Gil Scott-Heron.
Das Filmplakat zu „We Almost Lost Bochum“. Der Titel ist eine Referenz an den Songklassiker „We Almost Lost Detroit“ von Gil Scott-Heron. © Mindjazz Pictures

2019 lief die Dokumentation bei den Hofer Filmtagen, im Frühjahr 2020 coronabedingt zunächst nur in einigen Autokinos. Seit dieser Woche gehen Regisseure und Darsteller auf eine Art Deutschlandtour, um den Film in ausgewählten Kinos vorzustellen - so am Freitag auch ab 21.30 Uhr im Bochumer Metropolis im Hauptbahnhof (die Vorstellung ist ausverkauft).

Unter den Besuchern wird dann auch Bernd Faust (51) sein, der einst in Herne mit Stieneke in der gemeinsamen „Posse“ abhing und zu HipHop-Konzerten fuhr. Vor wenigen Jahren versuchte Faust ein „Homecoming“-Konzert von Aphroe in Herne zu organisieren - bisher ohne Erfolg. „Vielleicht passiert es ja doch noch mal“, sagt Karsten Stieneke. Und er könne sich auch durchaus vorstellen, nach längerer Pause mal wieder zwei, drei Songs aufzunehmen: „Es fühlt sich derzeit so gut an wie schon lange nicht mehr.“

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