Herne. Robert Sibbel ist neuer Sprecher der Herner Apotheker. Im Samstagsinterview spricht er über Schließungen, Lieferengpässe und Digitalisierung.

Robert Sibbel ist seit Jahresbeginn Sprecher der Herner Apotheker. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann spricht er über die Herausforderungen für die Zukunft.

Herr Sibbel, vor wenigen Tagen meldete die WAZ, dass in Bochum rund 600 Medikamente nicht lieferbar sind. Wie stellt sich die Situation in Herne dar?

Sibbel: Hier ist es genau die gleiche Katastrophe. Diese Zahl lässt sich ohne Weiteres auf Herne übertragen.

Woran liegt das?

Es gibt hauptsächlich zwei Gründe. Der Kostendruck führt dazu, dass fast die gesamte Produktion in Asien stattfindet. In Indien und in China. Und wenn dort Qualitätsprobleme auftauchen, wird eine Charge gesperrt, und es ist nicht genug da. Arzneimittel kann man nicht mal eben so nachproduzieren. Dann fehlen einfach Sachen. Für manche Arzneistoffe gibt es weltweit nur noch drei Fabriken, die den entsprechenden Wirkstoff produzieren. Wenn eine ausfällt, gibt es einen weltweiten Mangel. Und dann dauert es lange, bis die Löcher gestopft sind.

Und der andere Grund?

Rabattverträge. Die Krankenkassen haben für bestimmte Wirkstoffe einen Rabattpartner. Die Kassen schreiben das aus. Die Unternehmen bieten, und eins bekommt dann den Zuschlag. Die, die den Zuschlag nicht bekommen, stellen das Arzneimittel nur noch in ganz geringen Mengen her. Wenn aber das Unternehmen, das den Zuschlag erhalten hat, ein technisches Problem hat, können die anderen nicht schnell genug einspringen. Früher haben alle Firmen in einer bestimmten Menge produziert.

Die Regale in den Apotheken sind nicht mehr komplett gefüllt. Zahlreiche Medikamente sind nicht lieferbar.
Die Regale in den Apotheken sind nicht mehr komplett gefüllt. Zahlreiche Medikamente sind nicht lieferbar. © dpa | Daniel Reinhardt

Und die Apotheke vor Ort bekommt den Ärger der Kunden zu spüren...

...ganz genau. Es dauert alles länger, weil wir recherchieren müssen, was lieferbar ist. Dann müssen wir für die Krankenkassen dokumentieren, wenn wir ein Medikament von einem Hersteller abgeben, der nicht Rabattpartner ist. Der Kunde muss vielleicht noch einmal wiederkommen, weil wir erst bestellen müssen. Es ist für alle mehr Arbeit, Zeitaufwand und verursacht Ärger. Ich komme mir manchmal vor wie in der dritten Welt, weil Sachen nicht zu bekommen sind. Und wenn mal wieder eine Charge verfügbar ist, stürzen sich alle drauf und sichern sich erstmal jede Menge.

Aber was passiert, wenn es um lebenswichtige Medikamente geht?

Es gibt zum Beispiel ein Antidepressivum, das zum größten Teil nicht lieferbar ist. Patienten, die darauf eingestellt sind, können das nicht mal so eben absetzen. Dann müssen sie umgestellt werden, und wir als Apotheker müssen uns unglaublich durchhangeln, damit die Leute versorgt bleiben. Und trotzdem müssen manche Patienten von einer erfolgreichen Therapie umgestellt werden. Auch Blutdruck- und Narkosemittel sind ein Thema. Teilweise werden wir auch von Ärzten beschimpft, weil bestimmte Dinge wie auch Impfstoffe nicht lieferbar sind. Das ist sehr unbefriedigend. Das habe ich in 20 Jahren Selbstständigkeit noch nicht erlebt. Ich will doch die Kunden vernünftig versorgen.

Ein anderes Thema sind die Apothekenschließungen. Wird sich der Trend fortsetzen?

Eindeutiges Ja. Von den Kollegen, die jetzt noch da sind, wollen zahlreiche raus, weil sie sich zur Ruhe setzen wollen, aber sie finden keinen Nachfolger. Manche machen nur noch deshalb weiter, weil sie darauf hoffen, doch noch einen Nachfolger zu finden. Aber es gibt kaum noch Apotheker, die bereit sind, in eine kleine Vorort-Apotheke zu gehen. Die Arbeitsbelastung ist hoch, sie stehen von morgens bis abends im Laden, machen noch die Notdienste und stehen unter dem Strich nicht besser da als angestellte Apotheker.

Die Hafen-Apotheke hat bereits 2013 geschlossen.
Die Hafen-Apotheke hat bereits 2013 geschlossen. © WAZ FotoPool | Archivbild: Ralph Bodemer / WAZ FotoPool

Wie könnte man diesen Trend stoppen?

Schwer zu sagen. Vielleicht läuft es darauf hinaus, dass man die Versorgung mit weniger Apotheken hinbekommt. Es wird wohl nicht mehr in jedem Stadtteil eine Apotheke existieren können. Die Frage ist, wann der Prozess stoppt. Denn klar ist auch: Ganz ohne stationäre Apotheken wird man die Arzneimittelversorgung in Deutschland nicht stemmen können: Kühlware, Betäubungsmittel, individuell angefertigte Rezepturen, schnelle Akutmedikation, Notdienste – all das können und wollen Versender gar nicht leisten.

Welche Rolle spielt denn die Digitalisierung bei diesem Prozess?

Die Konkurrenz mit Versandapotheken tut den Apotheken vor Ort in zwei Punkten weh. Einerseits gibt es durch das Internet eine komplette Preistransparenz. Jeder kann Preise für frei verkäufliche Medikamente im Internet nachschauen. Deshalb ist es quasi unmöglich, diese Dinge zum Listenpreis zu verkaufen. Andererseits betreiben die Internetversender aus dem Ausland bei den verschreibungspflichtigen Medikamenten Rosinenpickerei und versuchen, den stationären Apotheken ertragsstarke Dinge wegzunehmen. Hier sollte sich jeder Patient fragen, ob er auf einen persönlichen Ansprechpartner in der örtlichen Apotheke verzichten möchte; jemand der sich Zeit für ein Gespräch nimmt, im persönlichen Kontakt Fragen zur Therapie klärt und Unklarheiten schnell mit dem verordnenden Arzt klärt. Wir verkaufen ja keine Bonbons…

Und dazu kommt jetzt auch noch dieEinführung des E-Rezepts...

Dafür sind noch nicht alle Details geklärt, doch es wird ungefähr so funktionieren, dass der Patient einen QR-Code als Rezept aufs Smartphone bekommt, mit dem er in die Apotheke geht. Wir lesen den Code aus, gehen zu einem zentralen Server, laden uns die ärztliche Verordnung herunter und beliefern die Patienten.

Zur Person

Robert Sibbel (verheiratet mit einer Apothekerin und Vater von drei Söhnen) engagiert sich neben dem Beruf ehrenamtlich im TC Parkhaus, dem Lions-Club und dem Caritas-Verband.

Als echter Wanne-Eickeler glaubt der 52-Jährige an Wanne-Mitte und eine wohnortnahe Arzneimittelversorgung. In Wanne-Mitte hat er zusammen mit seiner Frau in den vergangenen Jahren viel in den eigenen Standort an der Hauptstraße und Gerichtsstraße investiert.

Wo liegen aus Ihrer Sicht die Probleme?

Die Patienten können zum Beispiel den QR-Code an einen Versender schicken. Bisher läuft das Geschäft mit den Versendern noch umständlich per Post. Es stellt sich ja auch die Frage, wer die Rezepte wohin schickt. Bisher bekommen Patienten in der Arztpraxis das Rezept ausgehändigt und haben die freie Apothekenwahl. Wird das so bleiben? Oder gehen die Rezepte direkt von der Praxis zur Krankenkasse, einem Versender oder einem „Makler“? Da besteht die Gefahr, dass die vor Ort Apotheken übergangen werden. Diese Dinge sind zwar noch verboten, werden aber zurzeit diskutiert. Uns ist es ganz wichtig darauf hinzuweisen, dass natürlich auch Apotheken E-Rezepte verarbeiten können. Wir sind dafür gerüstet und sind da absolut konkurrenzfähig. Und mit unserem Botendienst und Service vor Ort sind wir schneller als Versender. Wir liefern noch am selben Tag.

Wie sieht es denn mit der Datensicherheit aus?

Da habe ich noch meine Bedenken. Was passiert, wenn der Server für die elektronischen Rezepte ausfällt oder das Internet nicht funktioniert? Dann kann ich keine Verordnung mehr bekommen. Dann bleiben die Menschen unversorgt. Außerdem: Kennen Sie ein EDV-System das, noch nie gehackt wurde? Rezepte enthalten extrem sensible Daten. Ist die Sicherheit dieser Daten in der komplett digitalen Welt wirklich gewährleistet?

Wie hat sich eigentlich der Preiskampf der Apotheken entwickelt? Herne gilt in dieser Hinsicht als das härteste Pflaster bundesweit.

Der Kampf findet nach wie vor statt. Dazu muss man sagen: Im Bereich der frei verkäuflichen Arzneimittel. Da ist durch das Internet schon eine Preissensibilität der Menschen vorhanden. Aber in Herne gibt es mehrere starke Apotheken, die in einem heftigen Wettbewerb miteinander stehen und dementsprechende Preispolitik betreiben. Auch das hat dafür gesorgt, dass Vorort-Apotheken geschlossen haben. Diesem Wettbewerb muss man sich stellen, der Preis ist aber nicht alles.