Herne. Vor 75 Jahren starb der Herner Pfarrer Ludwig Steil im KZ Dachau. Aus dem Polizeigefängnis schrieb der mutige Nazi-Gegner ergreifende Briefe.

Bis sich zum Ende des 2. Weltkriegs die Tore von Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen öffnen, läuft die Mordmaschinerie der Nazis auf Hochtouren. Eines ihrer Opfer ist Pfarrer Ludwig Steil aus Herne. Er stirbt am 17. Januar 1945, wenige Wochen vor der Befreiung vom Faschismus im Konzentrationslager Dachau – vor 75 Jahren.

Am 21. Oktober 1944 schreibt Ludwig Steil, seit 1929 Pfarrer der evangelischen Bergarbeitergemeinde in Holsterhausen, aus der Gefangenschaft im Polizeigefängnis in Herne-Mitte an seine Tochter Brigitte: „Am Donnerstag bin ich von Dortmund hierher gebracht worden (…). Erst sind wir im Auto nach Mengede gefahren, von da mit der Bahn über Rauxel nach Herne. Du weißt doch den neuen Bunker, an dem wir auf dem Heimweg immer vorbeikamen bei der katholischen Buchhandlung, dahinter liegt das Polizeigefängnis; da sind in der Zelle sechs Betten, immer zwei übereinander. Ich liege in einem unteren Bett, also nicht mehr auf dem Boden wie in Dortmund“.

Vom Gestapo-Gefängnis ins Herner Polizeipräsidium

Gott lässt sinken, aber nicht ertrinken: Ludwig Steil wurde zwischenzeitlich auch im Polizeigefängnis in Herne-Mitte untergebracht.  
Gott lässt sinken, aber nicht ertrinken: Ludwig Steil wurde zwischenzeitlich auch im Polizeigefängnis in Herne-Mitte untergebracht.   © Archiv Ralf Piorr

Zwei Tage zuvor ist er von dem nach Bombenangriffen schwer getroffenen Dortmunder Gestapo-Gefängnis „Steinwache“ ins völlig überfüllte Herner Polizeigefängnis überführt worden. Seine Zukunft ist ungewiss, doch der tief im christlichen Glauben verwurzelte Gefangene der Nazischergen ist voller Zuversicht. Ludwig Hamberg, ebenfalls in Herne einsitzender Häftling, berichtet später Steils Frau Gusti: „Er war in Herne immer von Mitgefangenen umringt, und wenn er von göttlichen Dingen redete, ging etwas von ihm aus. Wie oft sagte er uns: Gott lässt sinken, aber nicht ertrinken!“

Ludwig Steil, neben Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer ein führender Kopf der Bekennenden Kirche, hält sich trotz vielfältiger Anfeindungen und Verfolgung lange über Wasser. Noch im August 1933 war er zum ersten Superintendenten des Kirchenkreises Herne gewählt worden. Die Amtsübernahme wird aber von den systemtreuen „Deutschen Christen“ (DC) in der evangelischen Kirche erfolgreich vereitelt. Seit 1934 wird Steil von Gegnern mehrfach angezeigt und muss sich in mindestens 16 Verhören vor der Geheimen Staatspolizei in Bochum und Dortmund rechtfertigen. Allein 1938 liefen beim Sondergericht in Dortmund fünf Verfahren gegen ihn.

Ohne Gerichtsprozess in die berüchtigte „Steinwache“

Ein mutiger Kämpfer gegen das Nazi-Regime: Ludwig Steil.
Ein mutiger Kämpfer gegen das Nazi-Regime: Ludwig Steil. © Archiv Ralf Piorr

Sein Kampf gegen die Gleichgültigkeit und seine bohrenden, kritischen Fragen führen schließlich am 11. September 1944 zur Verhaftung. Er wird für eine Nacht im Wanne-Eickeler Polizeigefängnis in der Gelsenkircher Straße festgesetzt und von dort ohne Gerichtsprozess in der berüchtigten „Steinwache“ in Dortmund inhaftiert. Anlass sind seine mutigen, öffentlichen Fürbitten für NS-Verfolgte sowie Vorträge „für Angefochtene“, nicht zuletzt die Euthanasieopfer, die er auch in seiner Gemeinde und in der Kreuzkirche hält.

Seine Mitgefangenen im Herner Polizeigefängnis sind neben weiteren Geistlichen überwiegend russische und französische Zwangsarbeiter sowie deutsche Kommunisten. Auch in Herne müssen die Gefangenen bei den sich jetzt häufenden Fliegeralarmen in der verschlossenen Zelle ausharren, durften nicht in den Keller des Polizeipräsidiums oder in den benachbarten Hochbunker. Gusti Steil erinnert sich: „Wenn ich meinen Mann besucht, das Essen abgegeben und mit ihm einige kostbare Minuten geplaudert hatte, kam gewöhnlich der Ton der Sirene. Eiligst musste ich den Flur des Gefängnisses verlassen, und während ich in dem festen Bunker nebenan mich einigermaßen sicher fühlen konnte, wurden die Gefangenen in ihren Zellen eingeschlossen.“

Einen Reim für die Tochter

DGB-Geschichtswerkstatt fordert Lern- und Gedenkort

Auf Initiative der DGB-Geschichtswerkstatt hat sich 2019 ein „Förderkreis Mahn- und Gedenkstätte Polizeigefängnis Herne e.V.“ gebildet. Ziel ist die Aufarbeitung der Geschichte des im Hof des Polizeigebäudes am Rathausplatz gelegenen und 1929 in Betrieb genommenen Gebäudes.

Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Opfer und Täter während der Nazidiktatur. Nach dem Machtantritt der Nazis im Januar 1933 wurde die Gegend um das Polizeipräsidium am Rathausplatz, insbesondere bei Regimegegnern und Angehörigen der Opfergruppen, eine Stätte kaum zu beschreibenden Leids.

Nach Auswertung der archivierten Sterbeurkunden des Standesamtes konnten 92 Sterbefälle mit der letzten Anschrift „Adolf-Hitler-Platz 3“ (dem ehemaligen Polizeigefängnis) sowie zwei Sterbebeurkunden für „Hermann-Göring-Straße 11“ (heute Seiteneingang Bebelstraße) von 1934 bis 1945 zugeordnet werden. Die DGB-Geschichtswerkstatt möchte dort einen dauerhaften Lern- und Gedenkort einrichten.

Der streitbare Pfarrer hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, nach acht Wochen Haft frei zu kommen. Vergeblich: Am 15. November schreibt Steil aus seiner Zelle an seine evakuierte Tochter: „Heute ist Mutter schon gleich nach 10 Uhr bei mir gewesen, hat mir Brot gebracht und ein paar Birnen. Sie hat ein wenig geweint, weil sie eine schlechte Nachricht brachte: ich werde bald weit von hier weggebracht, in ein Lager, wo auch unser Freund Martin Niemöller ist, nach Dachau bei München.“ Er schreibt der Tochter einen Reim auf, den sie in ihr Abendgebet einschließen soll: „Mach Mutter stark und Vater frei, bis wir zusammen alle Drei, in Holsterhausen wieder, Dir bringen Dank und Lieder.“

Mit zweitägigem Zwischenstopp im Bochumer Gefängnis „Krümmede“ geht Ludwig Steil, inzwischen an schwerer Grippe erkrankt, mit weiteren Häftlingen – zumeist zu zweit oder dritt im Waggon aneinandergefesselt – auf Transport. Nach dreiwöchiger, strapaziöser Deportation trifft er mit seinen Leidensgefährten am 23. Dezember 1944 im KZ Dachau ein. Anfang Januar 1945 kommt er mit Typhus ins Krankenrevier des Lagers. Durch die Gefangenschaft, den Transport sowie die völlig unzureichende Versorgung geschwächt, stirbt der 45-Jährige am 17. Januar 1945 im KZ Dachau. Am Vormittag des darauffolgenden Tages halten seine geistlichen Kollegen einen Trauergottesdienst für ihren Mitbruder ab.

Der Autor Norbert Arndt ist Mitglied der DGB-Geschichtswerkstatt.