Wenn sich am 9. November der Mauerfall zum 30. Mal jährt, wird Renate Müller wieder aufgeregt sein. Sie kam wenige Wochen später nach Herne.
Heute jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Renate Müller (63) lassen die Ereignisse bis heute nicht los. Sie hat die Nachricht in Erfurt erfahren. Nur wenige Wochen später kam sie nach Wanne-Eickel. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann schildert sie ihre Geschichte.
Frau Müller, was geht in Ihnen vor, wenn Sie in den vergangenen Tagen die Berichte und Rückblenden zum Mauerfall sehen?
Müller: Dann bin ich immer noch genauso aufgeregt wie damals. Ich mache auch meine Freunde, die ich inzwischen hier habe, verrückt und sage denen: Wir haben Jubiläum. Die Zeit damals läuft wie ein Film vor meinen Augen ab.
Wo waren Sie am 9. November 1989?
Zuhause in Erfurt. Ich habe Nachrichten gesehen und die Kinder betreut, weil mein Mann nicht zu Hause war. Dann wurden die Nachrichten unterbrochen, nachdem die Mitteilung zur Reisefreiheit in Berlin kam. Da habe ich gedacht, ich werde verrückt. Ich habe versucht, meinen Mann zu erreichen, aber es gab ja noch keine Handys und auch nicht in jedem Haushalt Telefon. So musste ich warten und meine Aufregung stieg, bis ich ihm die Nachricht mitteilen konnte.
Und wie war seine Reaktion?
Der ist auch ausgeflippt. Wobei der Mauerfall unsere eigenen Pläne überholt hat.
Wieso?
Wir hatten sowieso einen Ausreiseantrag gestellt. Der war am 3. Oktober genehmigt worden, und wir mussten sowieso bis Ende November die DDR verlassen.
Wieso haben Sie denn den Ausreiseantrag gestellt?
Wegen der Politik, die Spitzelei von Nachbarn hat uns angekotzt. Und dass man nicht reisen konnte, wohin man wollte. Meinungsfreiheit gab es ja auch nicht.
Sind Sie denn bespitzelt worden?
Ja. Es gab auch bei der Stasi eine Akte über meinen Mann und mich. Wir sind von Nachbarn bespitzelt worden, weil ich immer ein bisschen eine große Klappe hatte. Ich habe überall meine Meinung gesagt, was mir nicht gepasst hat. Ich wurde öfter vorgeladen und zurechtgewiesen. Ich durfte auch nicht nach Ungarn fahren. Mein Mann und ich haben nie einen Hehl aus unserer Meinung gemacht. Wir waren regelmäßig bei denMontagsdemonstrationen in Erfurt dabei. Am 9. November saßen wir praktisch schon auf gepackten Koffern. Wir mussten noch unsere Papiere regeln und unsere Sachen packen. Die Gefühle, die dann mit dem Mauerfall in uns vorgegangen sind, kann wohl niemand nachvollziehen. Irgendwie wussten wir auch nicht recht, was das für uns bedeutet.
Was haben Sie beschlossen, als Ihr Mann dann abends zu Hause war?
Wir haben beschlossen, dass wir uns am nächsten Morgen in den Zug setzen und nach München zu meiner Tante fahren. Das haben wir auch gemacht am nächsten Tag. Unsere beiden Kinder haben wir bei meinen Eltern gelassen in der Zeit.
Und wie war dieser Besuch?
Wir sind erst zur Behörde und haben gefragt, ob wir überhaupt fahren dürfen. Dort wusste man es aber selbst nicht. Die haben einfach Ja gesagt. Wir kamen aber erst mal gar nicht weg, weil alle Züge brechend voll waren. Wir haben uns dann in einen Zug reingezwängt. Als wir in München angekommen waren, hatten die Blumen für meine Tante nur noch Stiele.
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Wie waren die Eindrücke in München?
Wir waren vier oder fünf Tage da, und es war erst mal erschlagend. Ich war schon mal vorher da, aber mein Mann hatte den Westen noch gar nicht gesehen. Es war überwältigend. Ursprünglich wollten wir nach München ziehen, und unsere Tante ist dann mit uns rumgefahren bis nach Ulm, um eine Wohnung zu suchen, wir haben aber nichts gefunden. Ich habe dann von München einen Bekannten in Wanne-Eickel angerufen. Der hat gesagt, dass er sich kümmern will. Er hat angeboten, dass wir bei ihm wohnen können, damit wir nichts ins Heim nach Unna-Maassen müssen. Mein Bekannter hatte zwei schmale Gästezimmer, da haben wir erst mal gewohnt.
Wie war das eigentlich, als Sie aus München wieder zurück in Erfurt waren?
Wir sind von allen möglichen Freunden und Bekannten mit Fragen geradezu bombardiert worden, wie es denn war. Und wir haben in Erinnerungen geschwelgt. Uns ist ja schon auf dem Weg nach München Geld geschenkt worden. Mein Mann hat ein Paket Tennissocken bekommen. Es herrschte große Euphorie.
Wie war die erste Zeit in Wanne-Eickel? Die Stadt und das Ruhrgebiet kannten Sie ja gar nicht.
Schlimm schön. Es war ja Vorweihnachtszeit, wir hatten zwei Kinder im Gepäck, die von den vorweihnachtlichen Eindrücken erschlagen wurden. Die hatten vor jedem Schaufenster riesengroße Augen. Egal ob Spielzeug oder was anderes. Und wie die Städte geschmückt waren – umwerfend für uns. In der DDR war ja alles trist.
Wie hat sich dann der Übergang in ein „normales“ Leben vollzogen?
Schwer. Wir kamen ja ohne einen Pfennig Geld und mussten Unterstützung beantragen. Der Überfluss an Konsumdingen war eine so große Umstellung für uns, dass wir Angst hatten, dass wir es nicht schaffen. Wir haben dann im März eine eigene Wohnung bekommen, mein Mann hat im Januar schon Arbeit bei Schwing bekommen. Ich allerdings nicht. Ich bin ausgebildete Handelskauffrau, hatte aber keine Computerkenntnisse. Ich habe eine Computerschulung gemacht, aber auf Grund des Alters meines Sohnes keine Stelle gefunden, obwohl ich rund 400 Bewerbungen geschrieben habe.
Wenn Sie Ihr gesamtes Leben in Erfurt verbracht haben bis zum Mauerfall, gab es da Heimweh?
Ja, das erste Jahr war ganz schlimm. Wir sind alle vier Wochen nach Hause gefahren zu meiner Mutter. Wir haben ja von Freunden gehört, die wieder zurückgegangen sind. Davor hatten wir Angst.
Ist das Heimweh mit der Zeit verschwunden?
Das war nur ein Jahr, bis wir uns an alles gewöhnt hatten. Die Kinder wollten nicht wieder weg, weil die sich eingelebt hatten, und mein Mann verdiente gutes Geld. Die Besuche sind dann seltener geworden. Wir sind noch zu bestimmten Anlässen hingefahren.
Wie ist heute das Verhältnis Erfurt und Wanne-Eickel?
Heimat ist immer noch Erfurt, aber Wanne-Eickel ist mein Zuhause. Ich hätte die Gelegenheit gehabt, von Wanne-Eickel woanders hinzuziehen, doch ich wollte nicht nochmal bei Null anfangen. Ich habe hier ja meinen ganzen Freundeskreis. Die Stadt und die Region sind ein Stück Heimat für mich geworden. Ich lebe ja jetzt fast die Hälfte meines Lebens hier.
Werden Sie am 9. November ein wenig feiern?
Nein, das ist ein normaler Samstag. Aber meine Gedanken sind bei den Ereignissen von damals. Ich guck dann den ganzen Tag Fernsehen. Ich muss das jedes Jahr alles nochmal nachvollziehen.