Berlin. Schabowskis PK und sein handgeschriebener Zettel sind bekannt. Doch es gibt noch einen weiteren Zettel mit weltpolitischer Relevanz.
Der Mauerfall vor 30 Jahren war letztlich eine Angelegenheit von Zetteln, von handschriftlichen Notizen und Verwirrungen. Der eine Zettel ist bekannt, der mit dem Gekritzel von Günter Schabowski, aus dem das Mitglied des Politbüros am frühen Abend des 9. November 1989 der Weltpresse reichlich unscharf und zögerlich die neue Reisefreiheit vorlas.
Der andere ist eher unbekannt, derjenige nämlich, der erst dafür gesorgt hatte, dass der SED-Nomenklatura fünf Tage vor dem Mauerfall, am 4. November, ihre Lage so richtig klar wurde: Aussichtslos, keine Chance mehr. Unsere Zeit ist vorbei, wir können nur noch verzögern, auf einen passablen Abgang hoffen.
Klar gemacht hatte den Funktionären dies an jenem Tag, mittags, bei milder Westwetterlage und gelegentlichem Sonnenschein, eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz, vielleicht war es sogar eine ganze Million.
Die größte Kundgebung der Opposition in der Geschichte der DDR; die erste genehmigte Demonstration überhaupt, die nicht von Behörden oder staatlichen Verbänden organisiert war; eine der friedlichsten dieses so bewegten Spätherbstes der Republik, auf jeden Fall die mit den witzigsten Transparenten, und mit den prominentesten Rednern – die in ihren Beiträgen fast alle einen anderen, freieren, demokratischeren Sozialismus forderten. Erstmals übertrug so eine Veranstaltung auch das DDR-Fernsehen, live, die Techniker haben einfach die Schaltung gelegt. Ohne die Chefredaktion oder gar die Partei zu konsultieren.
Aufgewühlt, viele wütend, andere nachdenklich
Wenige Tage zuvor noch waren all diese Superlative nur ein Traum. Bis der Zettel ins Spiel kommt, am 15. Oktober, im Deutschen Theater.
800 Beschäftigte sind an jenem Vormittag dort zusammengekommen, im großen Saal, zu einer Art außerordentlicher, offener Betriebsversammlung. Viele prominente Schauspieler, Regisseure und andere bekannte „Kulturschaffende“, wie es damals heißt, aus der ganzen Republik.
Aufgewühlt, viele wütend, andere nachdenklich, ratlos oder ängstlich über all das, was so im Land gerade geschah: über den Betrug bei dem Kommunalwahlen, wachsenden Frust im Volke über die Versorgung, über Gängelungen, Fluchten zu Tausenden über Prag in den Westen, zusammengeknüppelte Demonstrationen, Massenverhaftungen, rasantes Anwachsen der Protestszene, spontane Gründung von Oppositionsgruppen, Rückzug und Flucht vor Stasi und Polizei in die Kirchen. Und so weiter.
Es gibt viel zu diskutieren im Saal. Der gewerkschaftliche Vertrauensmann Thomas Neumann moderiert die Statements, Berichte, Klagereden. Irgendwann stellt jemand im Publikum nebenbei die Frage: „Was können wir tun?“ Neumann greift sie bei der nächsten Unterbrechung auf: „Bei dieser Frage kann ich vielleicht kurz dazwischenschieben: Es wird mir ein Antrag reingereicht…“
Er hält einen Zettel hoch, für alle sichtbar. Hinter ihm steht Jutta Wachowiak, ein Gesicht, das in der DDR jeder kannte, aus Film, Fernsehen und Zeitschriften. Wachowiak aber zieht ihm den Zettel, den sie Neumann vorhin gegeben hatte, wieder aus der Hand. Der Saal lacht. Neumann: „Es wurde mir ein Antrag reingereicht.“ Man lacht weiter. „Der ist zurückgezogen worden. Der war nicht schlecht. Das war die Beantragung einer Demonstration.“ Da ist das Wort im Raum. Und es lacht keiner mehr.
„Also dann würde ich sagen: ich stelle den Antrag“
Die Leute sind begeistert, es folgt langer, starker Beifall, auf den Neumann reagiert: „Wenn wir jetzt schon, vor der Absage, zurückziehen, können wir uns nicht wundern.“ Da greift aus dem Auditorium Peter Ensikat ein, in der DDR bekannt wie ein bunter Hund, als Schauspieler jeder Art, als meistgespielter Kabarettautor, 1988 Nationalpreisträger: „Also dann würde ich sagen: Ich stelle den Antrag, die Demonstration zu beantragen.“
Im Saal ist man jetzt aus dem Häuschen, viele stehen auf, klatschen lang und laut in die Hände, jubeln. Jetzt spürt Wachowiak den Sog, tritt wieder nach vorne, etwas unsicher, nimmt den Zettel erneut in die Hand.
Die Schauspielerin liest ihn vor: „Wir beantragen die Genehmigung zur Durchführung einer Demonstration am Sonnabend, dem 4.11.1989.“ Man wolle damit „grundlegende Reformen der Medienpolitik in der DDR durchsetzen“. Dann wird noch die geplante Route für die Demonstration angeführt. Wachowiak deutet an, warum sie Neumann den Zettel erstmal noch aus der Hand gemopst, Bedenken bekommen hatte: „Dieser Vorschlag ist im Verband, im Vorstand oder den Sektionsvorständen noch nicht vorgelegt worden, noch nicht autorisiert.“
Doch solche bürokratischen Vorbehalte will jetzt keiner hören. Die Versammlung der 800 gibt sich selbst das Mandat, fordert das Podium auf, eine Gruppe zu bilden, die das Anliegen beim Polizeipräsidenten ganz förmlich vorbringen soll. Alles weitere geht in der lautstarken Begeisterung unter.
Man war in der Offensive, alle standen dahinter
Die Kulturschaffenden, die prominenten Intellektuellen schicken sich an, die „Diktatur des Proletariats“ herauszufordern. So bezeichneten die marxistischen Theoretiker ihre Republik nach wie vor, auch wenn das Proletariat selbst von diesem Herrschaftsprivileg nichts wissen wollte. Ein anderes Gesicht, damals kaum bekannt, heute umso mehr, hatte im Saal ein paar Minuten zuvor etwas ähnliches gesagt. Es hatte nur keiner mitgekriegt.
Rechtsanwalt Gregor Gysi war eigentlich geladen, um über die Verteidigung inhaftierter Demonstranten zu referieren. Dabei bemerkte Gysi, ganz nebenbei, dass es zur Anmeldung von Veranstaltungen seit dem 1. Juli in der DDR neue Vorschriften gebe, die theoretisch auch Kundgebungen beträfen: „Ich verstehe eigentlich nicht, dass sich keiner bemüht, mal diesen Rechtsweg zu gehen.“ Da hatte es noch niemand ernst genommen, Gysi wohl selbst auch nicht, alles nur theoretisch gemeint, wird ja sowieso nichts, das lassen die nie zu und drangsalieren den Antragsteller.
Jetzt aber, nachdem Wachowiak den Zettel vorgelesen hat, den unmittelbaren Aufruf, vor den 800, da sah die Sache ganz anders aus. Man war in der Offensive, alle standen dahinter, wollten es wissen. Hans Rübesame dokumentiert in seinem Buch „Antrag auf Demonstration“ (Ch. Links Verlag) diese Szenen, die der Mauer dann bald den Rest gaben, sehr eindrucksvoll.
Dabei war Jutta Wachowiak für diesen Vorschlag, eine Demonstration zu beantragen, eigentlich nur die Botin. Beschrieben hatte das dann so wirkmächtige Blatt Papier jemand anders, am Vorabend, am 14. Oktober. Da hatte sich ein rundes Dutzend Angehöriger der zu der Zeit noch informellen, aber bereits bekannten Oppositionsgruppe „Neues Forum“ zusammengefunden.
Auch in dieser Versammlung ging es um die Frage: „Was können wir tun?“ Klar, es wäre Zeit, nach all den spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen in Leipzig und Dresden auch mal in Berlin etwas Ähnliches auf die Beine zu bekommen, vor der Weltpresse. Aber wie, wenn man doch noch als „feindlich-negative Kraft“ galt, deren Ansinnen die Stasi schon im Ansatz unterbinden und ahnden dürften.
Das hatte noch niemand gewagt. Warum nicht?
Auch Jutta Seidel, eine Zahnärztin, war an dem Abend dabei. Sie erinnert sich heute: „Einer hatte da die Idee: Hey, am nächsten Vormittag findet im Deutschen Theater ein Treffen der Kulturschaffenden statt, das Parkett voll mit geballter Prominenz, die müsste man ins Boot holen.“ Seidel wohnte damals in der Sophienstraße, gleich neben Jutta Wachowiak. „Ich bot der Runde an, für die Schauspielerin einen Antrag aufzusetzen, den sie dann im Theater verlesen könnte.“ Einen Antrag auf Demonstration. Den hatte noch niemand gewagt. Warum nicht?
„Ich ging dann nach Hause“, erzählt Seidel, „der Sohn von den Nachbarn, einer Pfarrersfamilie, kam noch rüber, wir haben hin und her überlegt.“ Sie beide entschieden kurzerhand, der 4. November sollte es sein, ein Sonnabend. „So habe ich das kurz aufgeschrieben, mit Datum und Uhrzeit, mit der Demo-Route, mit dem Antrag auf Genehmigung, mit der Forderung auf eine grundlegende Änderung der Medienpolitik.“ Anschließend, schon spät, brachte sie den Zettel rüber zur anderen Nachbarin, zu Jutta Wachowiak, die ihn dann morgens mitnahm.
Seidel selbst hörte am folgenden Tag, jenem 15. Oktober, zunächst nichts von dem Treffen im Theater. Bis zum Abend, als im Radio eine Übertragung aus der Erlöserkirche lief, von einer Solidaritätsveranstaltung für verhaftete Oppositionelle, „vielleicht im SFB oder im Rias, ich weiß nicht mehr“.
Darin vernahm sie die bekannte Stimme der Schauspielerin Gina Pietsch, als die verkündete: „Ich komme gerade vom Deutschen Theater und kann euch mitteilen: Am 4. November wird in Berlin eine große Demonstration stattfinden.“ Seidel erinnert sich: „In dem Moment ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Die Demonstration war ja noch gar nicht angemeldet, ganz zu schweigen von ihrer Genehmigung.“ Und jetzt das, im Radio! Später kam noch Wachowiak herüber, und erzählte von ihrer Zettel-Verlesung auf der Bühne im Theater. „Fast mit tragischer Miene sagte sie: So einen Applaus habe ich noch nie gehabt, nicht mal mit Maria Stuart.“
Die SED versuchte, Egon Krenz auf die Rednerliste zu setzen
Natürlich war der 4. November ein knapp bemessener Termin für die Veranstaltung, und natürlich kam schnell die Idee, das Ganze um zwei Wochen zu verschieben. Doch schon zwei Tage später war klar: Es muss beim 4. November bleiben, das ganze Land hatte von dem Datum gehört, auch in West-Berlin ging es herum.
Die Dinge nahmen ihren Lauf, unaufhaltsam. Im deutschen Theater bildete man eine Vorbereitungskommission. Schnell sah sie sich in einem Zweifrontenkrieg, in dem sie aber, bis dahin unvorstellbar genug, das Heft in der Hand behielt. Die Kalkulation aus jener Abendrunde des Neuen Forums, die versammelte Prominenz des Landes aus Film, Funk und Fernsehen mit einem handgeschriebenen Zettel mal eben ins Boot zu holen, war aufgegangen. Ihre Popularität war der Schlüssel zum Erfolg.
Die Kommission verhandelte mit dem Polizeipräsidenten, hinter dem die Stasi stand und das Militär. Sie alle ließen sich nolens volens auf das Spiel ein, waren in ihrer defensiven Lage nur noch bemüht, den Demonstrationszug von der Mauer fernzuhalten. Ihre einzige Bedingung: Die Abschlusskundgebung durfte nicht auf dem Platz der Akademie (Gendarmenmarkt) laufen, sondern auf dem Alexanderplatz.
Die andere Problemseite währte nur kurz. In der SED, wo man versuchte, sich an die Spitze der Veranstaltung zu stellen und auch noch den frisch gekürten Parteichef Egon Krenz auf die Rednerliste für die Abschlusskundgebung zu setzen, sah man schnell ein, dass man dort nichts zu suchen hatte.
Die Veranstalter waren gerade noch bereit, den Scheinoppositionellen aus dem Politbüro, Günter Schabowski, und den früheren Stasi-General Markus Wolf, der nach seinem Rücktritt 1986 als Schriftsteller auftrat, sprechen zu lassen. Ansonsten beherrschten vor allem die Intellektuellen mit ihrer Fundamentalkritik am Staat die Tribüne: Christa Wolf, Heiner Müller, Jens Reich, Stefan Heym und viele andere, im Fünfminuten-Takt. Kompromissbereit war man allerdings auf beiden Seiten. Das Neue Forum hätte gern auch den ausgebürgerten Wolf Biermann aus West-Deutschland zur Kundgebung eingeladen. Das Organisationskomitee lehnte das ab, man wolle die Staatsführung nicht provozieren.
Manch gestandener Darsteller bekam plötzlich Lampenfieber
Die Veranstaltung, vor allem die Kundgebung der Kulturschaffenden, Schauspieler zumeist, ging dann in einer Weise über die Bühne, die selbst Stoff für ein Theaterstück oder Spielfilm liefern könnte. Zum einen die Darstellung nach außen, hinein in die Öffentlichkeit, wo das Ganze wirkte, „als habe jemand ein Fenster aufgestoßen“, wie es Stefan Heym in seinem kurzen Beitrag – jeder der 27 Redner hatte nur fünf Minuten – formulierte.
Diese frische Luft sorgte dafür, dass von den Rednern kaum noch jemand Angst hatte, dass ihn die Staatsmacht wegen seiner Worte verfolgen würde, auch wenn einer frech die Rolle der Partei infrage stellte, den Abgang oder gar die Bestrafung staatstragender Personen forderte. Hemmungen gab es eher schon, weil mancher gestandene Darsteller plötzlich Lampenfieber bekam vor der halben Million Zuhörer.
Viele der Redner hatten die Nacht vorher nicht geschlafen, der Dokumentarfilmer Joachim Tschirner war mit dem Auto erst am Morgen aus Bayern von einem Drehtermin zurückgekehrt, hatte auf dem Beifahrersitz seinen Beitrag konzipiert. Manche mussten zur Aufmunterung zum Kaffee morgens schnell noch einen Weinbrand kippen, bevor sie auf die Bühne traten. Diese hatten die Theaterleute in der Eile einfach aus der Requisite geholt, aus Volker Brauns Stück „Lenins Tod“, und auf einen LKW geschraubt.
Die bizarrsten Szenen allerdings spielten sich wohl in der Kulisse ab, hinter der Bühne, sozusagen in der „Umkleide“, dem Café Espresso. Wo Vertreter der ersten Garde der DDR-Intellektuellen, teilweise selbst in der SED, sehr erfahren jedenfalls im öffentlichen Umgang mit der Spitze von Staat und Partei, jetzt einigen von denen unter ganz anderen Bedingungen begegnen.
Patrick Bauer schildert in seinem lesenswerten, fast schon witzigen Buch „Der 4. November 1989 und seine Geschichte“, was sich dort abgespielt hat. Etwa wie die Literatin Christa Wolf wiederholt Stasi-Mann Markus Wolf umarmt, tuschelt, ganz vertraut, beobachtet vom anderen Ende des Tisches von der kirchenbewegten Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, die dort wiederum Abstand zu Schabowski hält. Überall Grüppchen, und „der Gysi ist immer dabei“.
Manchmal machen kleine Dinge die große Geschichte
Hier trafen sich die „Retter des Gestern und die Propheten des Morgen“. Je nach Gefühlslage in Lauerstellung, in Höflichkeit oder tiefer Abneigung. Die unterschwelligen Rollen waren im Wandel. Mit dem Vertreter der Blockparteien, dem grauen Manfred Gerlach von der LDPD, konnte keiner etwas anfangen, auch wenn er seit 23 Jahren Staatsratsvorsitzender, also Staatspräsident war.
Jutta Seidel fand es im Nachhinein richtig, dass nicht nur die Opposition zu Wort kam. Dass auch Schabowski und Markus Wolf sprachen. „Die wurden so ausgepfiffen, dass endlich klar war, was die Leute wollten und was nicht.“ Hätte sie ihren Zettel nicht geschrieben, oder hätte Jutta Wachowiak ihn nicht wieder hervorgezogen an jenem Morgen im Theater – die Mauer wäre auch so gefallen, die DDR nicht zu retten gewesen.
Doch ob Günter Schabowski dann auch am 9. November bereits seinen Zettel bei der Pressekonferenz hervorgeholt hätte, oder erst einen oder zwei Monate oder noch später, das ist schon die Frage. Manchmal machen die kleinen Dinge die große Geschichte.
Die einen versuchten zu retten, was zu retten war. Die anderen forderten, was plötzlich denkbar schien. Es ging um Pressefreiheit, um Reisefreiheit, um freie Wahlen – nur um eines ging es nicht: Um eine Wiedervereinigung zweier deutscher Staaten. Aus den Erinnerungen, Reflektionen, Geschichten und Gedanken der Beteiligten (und ihrer Nachkommen) fügt Patrick Bauer ein faszinierendes Panorama dieses Tages – und der Tage davor und danach – zusammen. Patrick Bauer: Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. Der 4. November und seine Geschichte, Rowohlt-Verlag, 368 Seiten, 18 Euro.