Herne. . In der Forensik Herne haben Mitarbeiter gespürt, wie Psychosekranke die Welt erleben. Volontärin Jana Tessaring hat den Selbstversuch gemacht.

Es flackert vor meinen Augen, Stimmen prasseln auf mich ein, überschlagen sich. Personen sprechen mit mir, fragen, ob es mir gut gehe. Mir fällt es schwer zu antworten. Lautes Rauschen. Ich sehe einen verzerrten Flur, an seinem Ende bewegen sich Hände hinter einer Glastür. Dann Grimassen, riesengroße Augen und wieder Stimmen. Das ist doch jetzt real, oder?

Während der Simulation sehen die Teilnehmer einen langen Flur, der verschwimmt und auf dem sich Türen öffnen und schließen.
Während der Simulation sehen die Teilnehmer einen langen Flur, der verschwimmt und auf dem sich Türen öffnen und schließen. © Rainer Raffalski

So oder so ähnlich ergeht es Psychose-Erkrankten. Ich mache einen Selbsttest mit einer Video-Brille.

Schätzungsweise 800.000 Menschen in Deutschland leiden an so einer schweren psychischen Störung verbunden mit einem Realitätsverlust. In Einzelfällen werden Erkrankte zu Straftätern. Um diese Menschen effektiv zu therapieren und ihr Verhalten besser einschätzen zu können, nahmen 30 Teilnehmer der LWL-Maßregelvollzugsklinik Herne an einer Schulung teil, bei der sie verschiedene Formen einer Psychose mithilfe einer Simulation durchlebten.

Patienten mit schweren Straftaten

Der  LWL-Maßregelvollzug Herne von oben.
Der LWL-Maßregelvollzug Herne von oben. © Hans Blossey

Die Forensik hat Platz für 90 männliche Patienten. Körperverletzung, Tötungsdelikte, Sexualstraftaten: Fast jeder, der hier behandelt wird, hat eine schwere Straftat begangen. 60 Prozent der Patienten leiden an einer Psychose. „Tendenz steigend“, sagt Pflegedirektor Axel Bergstermann. So kämen die meisten Neuzugänge mit diesem Krankheitsbild in die Klinik.

Zu Beginn bekomme ich von Projektmitarbeiterin Marie-Anne Soyez einen Rucksack mit einem Akku und einen Laptop aufgesetzt, auf dem das Psychose-Programm läuft. Auch die futuristische Brille mit integrierter Kamera sowie Köpfhörer gehören zu meiner Ausrüstung. Mit einem Knopfdruck auf der Fernbedienung tauche ich in eine andere Welt ein.

Das viertelstündige Erlebnis ist ein Zusammenschnitt aus 33 verschiedenen Psychose-Erfahrungen, in dem Realität und Fiktion verschwimmen. Eine Stimme aus dem Off fordert mich auf, weiter zu gehen, während Marie-Anne Soyez neben mir mich mit vermeintlich banalen Fragen im Gespräch hält: „Wohin geht dein nächster Urlaub?“ Ihre Stimme hört sich dumpf an.

WAZ-Volontärin Jana Tessaring, rechts, und LWL-Klinik-Mitarbeiter Thorsten Kemper befinden sich gerade in der Welt von psychosekranken Menschen. Zum Simulationsanzug gehören ein Laptop und ein Akku, die auf den Rücken geschnallt werden.
WAZ-Volontärin Jana Tessaring, rechts, und LWL-Klinik-Mitarbeiter Thorsten Kemper befinden sich gerade in der Welt von psychosekranken Menschen. Zum Simulationsanzug gehören ein Laptop und ein Akku, die auf den Rücken geschnallt werden. © Rainer Raffalski

Intensität nimmt zu

Die Intensität der Erlebnisse nimmt von Minute zu Minute zu. Die Geräusche werden lauter. Die Gesichter der Projektmitarbeiter um mich herum sind bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, die Realität scheint sich vollkommen aufzulösen. Ein Gefühl dominiert: Überforderung. Dann sehe ich nur schwarz, die Simulation ist vorbei. Eine extreme Erfahrung. Es dauert einen Moment bis ich wieder im Hier und Jetzt angekommen bin.

Die Simulation ermöglicht das niederländische Kunstprojekt „Labyrinth Psychotica“ von der Künstlerin Jennifer Kanary Nikolov. Sie kam durch einen Schicksalsschlag zu dem Projekt. Ihre Schwägerin erkrankte an Schizophrenie und brachte sich um. Kanary Nikolov wollte die Krankheit begreifen.

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Selbst Trinken wird zur Herausforderung

Auch Thorsten Kemper, stellvertretender Stationsleiter einer Psychose-Station der Klinik, erlebt mithilfe der Simulation, wie sich Wahnvorstellungen anfühlen. Die Projektmitarbeiter fordern ihn auf, ein Glas Wasser einzuschütten und zu trinken, was ihm nur mit Müh’ und Not gelingt: „Meine Patienten greifen häufig ins Leere, jetzt kann ich besser verstehen, wie es sich anfühlt.“

Was er noch aus der Erfahrung mitnimmt: Verständnis dafür, warum seine Patienten so viel Zeit für scheinbar einfache Dinge brauchen. Er könne zudem jetzt besser nachvollziehen, warum manche Patienten aggressiv werden, wenn man sie berührt: „Sie sind in ihrer eigenen Welt und überfordert mit der Situation.“