Herne. . Über verschiedene Branchen hinweg spüren Betriebe den Mangel an Fachkräften. Ob Pflege oder Handwerk – die Folgen unterscheiden sich erheblich.
Vom Klempner über Friseur und Krankenpfleger bis hin zum Lokführer: Fachkräfte werden bundesweit händeringend gesucht. Der Mangel zieht sich durch die verschiedensten Branchen. Die WAZ ist der Frage nachgegangen, inwieweit sich der Fachkräftemangel in der Region Herne auswirkt: Welche Branchen sind besonders betroffen? Über welche Erfahrungen berichten Betroffene? Und wie können Betriebe damit umgehen?
Der Fachkräftemangel hat viele Facetten: Pflegenotstand bedeute nicht, dass Patienten nicht versorgt werden können, heißt es von Pflegedienst-Anbietern. Der Mangel an Handwerkern bedeute auch nicht, dass eingestürzte Dächer oder kalte Heizungen nicht umgehend repariert werden könnten, berichten Handwerksbetriebe.
Leistungsverdichtung in der Pflege
Branchen, die von einem Mangel an Fachkräften betroffen sind, haben vor allem Probleme damit, ihre Stellen zu besetzen – mit weitreichenden Konsequenzen für den laufenden Arbeitsalltag. So in der ambulanten Altenpflege der Diakonie Herne. Kurzfristige Ausfälle machen vielen Trägern wie auch der Diakonie zu schaffen: Bei Elternzeiten etwa oder bei Krankheitsfällen dauere es lange Zeit, bis Vertretungen gefunden werden, sagt Andrea Heier, Pflegewissenschaftlerin bei der Diakonie.
Für die vorhandenen Mitarbeiter bedeutet dies dann: Arbeitsverdichtung. „Denn bei Ausfällen gibt es keinen Ersatz“, sagt Jörg Kasbrink, Geschäftsführer der Diakonie Herne. Die vorhandenen Pflegekräfte müssten mehr Touren fahren, arbeiteten unter erhöhtem Zeitdruck und könnten den einzelnen Patienten weniger Zeit widmen, ergänzt Andrea Heier. Das bedeute nicht, dass die eigentliche Pflegearbeit nicht geleistet werde. Aber es führe dazu, dass vielleicht die Pflegedokumentation vernachlässigt werde.
Die Dokumentationen wiederum seien ein Kriterium, nach dem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Qualität von Pflegedienst-Anbietern bewertet, betont Heier. Eine vernachlässigte Bearbeitung der Dokumentation könne also negative Konsequenzen für Anbieter haben, obwohl die eigentliche Pflegearbeit ordentlich geleistet werde. „Dieser Kreislauf ist der eigentliche Notstand“, sagt Andrea Heier.
Gute Auftragslage im Handwerk
Auf ganz andere Weise äußert sich der Fachkräftemangel in der Handwerksbranche. Im Baugewerbe herrscht nach Angaben der Kreishandwerkerschaft Herne derzeit eine gute Auftragslage. So gut, dass Betriebe rund um das Baugewerbe viele Aufträge ablehnen müssen.
Beim Betrieb Elektro Sprick etwa gehen im Jahr ungefähr 3600 Aufträge ein. „Etwa 600 Aufträge haben wir jedoch ablehnen müssen“, sagt Rüdiger Sprick. „Wir beschäftigen etwa 30 Mitarbeiter, bei der Auftragslage könnten wir aber locker 60 Leute mehr einstellen.“ Die seien auf dem Arbeitsmarkt jedoch nicht zu finden, betont der Geschäftsführer.
Vor sieben bis acht Jahren seien in seinem Betrieb ungefähr 70 Bewerbungen im Jahr eingegangen. „Jetzt sind es jedoch nur noch 15 im Jahr“, sagt Rüdiger Sprick. „Ein guter Handwerker wiederum, der seine Stelle aufgeben will, kann zurzeit mit Leichtigkeit eine neue Stelle finden.“ Auf der anderen Seite kenne er auch kleinere Betriebe, die aufgrund des Mangels an Fachkräften keine Nachfolger finden.
Der Engpass an Fachkräften ist auch in Herne in verschiedenen Branchen zu spüren, und das auf vielfältige Weise. Der heutige Auftakt der mehrteiligen Themenreihe „Fachkräftemangel“ gibt einen Überblick über die Situation am Standort Herne. In den kommenden Ausgaben werden Sie Berichte lesen, die einen Einblick in verschiedene Berufsfelder und den damit verbundenen Problemstellungen gewähren und gleichzeitig einen Ausblick auf mögliche Lösungsansätze bieten.
>>> Fehlende Zahlen erschweren Überblick über Fachkräftebedarf
So allgegenwärtig das Phänomen Fachkräftemangel ist, umso schwieriger ist es, dieses in einem Gesamtbild zu erfassen. Zahlenmäßig gesehen, ist es in der Tat nicht erfassbar: Weder bei Arbeitsagenturen liegen allumfassende Statistiken vor, noch bei Institutionen wie der Industriehandelskammer oder der Kreishandwerkerschaft.
Keine Erfassung möglich
„Betriebe sind nicht verpflichtet, unbesetzte Stellen bei uns zu melden“, sagt Anja Greiter von der Arbeitsagentur für Bochum und Herne. Deshalb könne es sein, dass eine offene Stelle wieder besetzt werde, ohne dass sie je bei der Arbeitsagentur eingegangen sei. Eine vollständige Erfassung von offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt sowie besetzten Stellen in allen Unternehmen ist insofern nicht möglich.
Wie aus einer statistischen Auswertung der Arbeitsagentur, die der WAZ vorliegt, hervorgeht, gilt das auch für den Ausbildungsmarkt. Während in Berufsbranchen wie kaufmännischen Dienstleistungen, Verkaufsberufen und Buchhaltung Ausbildungsplatz-Zahlen im tausendstelligen Bereich vorliegen, gibt es an gleicher Stelle zum Teil keine Angaben. So bei medizinischen Gesundheitsberufen der Altenpflege, der Therapie und Heilkunde.
Arbeitsagentur ermittelt Trend
Zur Messung und Identifizierung des Fachkräftemangels gibt es laut Angaben der Arbeitsagentur nicht die eine Kennzahl. Die Agentur stützt sich zur Ermittlung des Bedarfs an Fachkräften auf die Engpassanalyse, eine Auswertung die unter anderem die sogenannte Vakanzzeit als ein grundlegendes Merkmal zur Hand nimmt: Also den Zeitraum von der Ausschreibung bis zur Besetzung einer ausgeschriebenen Stelle. Wenn die Besetzung einer Stelle nicht zum gewünschten Zeitpunkt erfolgen kann und Angebot und Nachfrage infolgedessen nicht zusammenkommen, tritt laut Definition der Agentur ein „Engpass“ ein.
Vakanzzeit als Indikator
Die mittlere Vakanzzeit beträgt 95 Tage, also etwa drei Monate. Überschreitet der Wert 133 Tage, liegt ein stark ausgeprägter Engpass vor. Die Engpassanalyse, in der vorhandene Daten untersucht werden, gilt als aussagekräftigste Untersuchung zur Ermittlung des Fachkräftebedarfs. Sie wird sowohl auf landesweiter als auch auf bundesweiter Ebene durchgeführt.
Engpässe in der Region Herne
Was die Stadt Herne betrifft, ist eine Engpassanalyse für den Standort alleine nicht möglich: Die für die Stadt vorhandenen Daten sind für die statistische Methode nicht aussagekräftig genug.
Aussagekräftig wird es erst nach Auswertung auf der Ebene der Region – wobei es auch hier je nach Arbeitsmarkt-Region Schwankungen gibt.
Herne gehört zum Ruhrgebiet
Eine Gesamtschau aus den vorhandenen Analysen der Arbeitsagentur sowie Berichten aus Betrieben und von IHK oder Kreishandwerkerschaft helfen, die Gesamtsituation in Herne zu überblicken.
Herne zählt laut der Engpassanalyse zu der Region Ruhrgebiet, die folgende Städte umfasst: Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Oberhausen und Recklinghausen. Demzufolge liegt in der Region ein Engpass mit starker Ausprägung an Fachkräften in den Branchen Gesundheits- und Krankenpflege, Rettungsdienst und Geburtshilfe sowie Altenpflege vor.
Der Bedarf in diesen Branchen deckt sich auch mit dem Bedarf auf NRW-weiter und bundesweiter Ebene.
Stellenbesetzung dauert länger
Die St. Elisabeth-Gruppe und das Evangelische Krankenhaus Herne zählen laut der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Herne zu den größten Arbeitgebern in der Stadt und damit zu den größten Arbeitgebern im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege. Allein die St. Elisabeth-Gruppe beschäftigt 2200 Pflegekräfte.
Beide Krankenhausgruppen geben an, keine schwerwiegenden Auswirkungen aufgrund des Fachkräftemangels zu spüren und alle offenen Stellen besetzen zu können. „Jedoch dauert es länger, bis eine Stelle besetzt werden kann“, sagt Theo Freitag, Geschäftsführer der St. Elisabeth-Gruppe.
Allerdings brauche die Krankenhausgesellschaft bei der Stellennachbesetzung von Hebammen aktuell länger als bei Pflegekräften, betont Freitag.
Besonderheiten am Standort
Was aus der Engpassanalyse nicht hervorgeht, sind Besonderheiten, die für den Standort Herne relevant sind. Seit dem Schwinden des Bergbaus spielt die Logistikbranche für den Standort Herne eine große Rolle. „Es gibt einen hohen Bedarf Lkw-Fahrern“, sagt Jörg Linden, Sprecher der IHK Mittleres Ruhrgebiet.
Wissen stammt aus Betriebsbesuchen
Konkrete Zahlen zum Bedarf an Fachkräften liegen auch der IHK nicht vor, so Linden. Die Kammer sammelt ihr Wissen vor allem aus Betriebsbesuchen, Gesprächen mit Unternehmen und Erfahrungen der Berufsberater.
Daraus gehe hervor, dass ebenfalls „gewerblich-technische Berufe in der Berufswahl bei Jugendlichen eher unbeliebt sind“. Berufe wie Industriemechaniker oder Zerspanungsmechaniker fallen darunter. In der Folge, so Jörg Linden, werden „unsere Berufsberater von Unternehmen konkret angesprochen, um zum Beispiel in Berufsschulen Lehrlinge anzufragen.“
>>> Wer darf sich Fachkraft, Spezialist oder Experte nennen?
Ob Fachkraft, Spezialist oder Experte: Mit Thema Fachkräftemangel tauchen oft verschiedene Begriffe auf. Obwohl sie unterschiedliche Bedeutungen haben, kann sich die Verwendung der Begriffe je nach Auslegung auch überschneiden.
Laut einer Definition der Arbeitsagentur werden vier Niveaus der Berufsqualifikation unterschieden: Helfer, Fachkraft, Spezialist und Experte. Helfer können einfache Tätigkeiten in einem Berufsfeld innerhalb kurzer Zeit anlernen und ausführen.
Eine Fachkraft kann sich erst nennen, wer eine mehrjährige Berufsausbildung mit abgeschlossenem Examen absolviert hat – dann nennt sie sich auch examinierte Fachkraft. Setzt sie nach der Ausbildung eine Weiterbildung mit einer Spezialisierung auf einem Gebiet innerhalb ihres Berufszweigs an, kann sie sich Spezialist nennen.
Analyse der Arbeitsagentur umfasst drei Niveaus
Der Begriff Experte wird ausschließlich für das akademische Niveau verwendet, auch wenn der Deutsche Qualifikationsrahmen die Vergleichbarkeit von Ausbildungsabschlüssen mit Studienabschlüssen regelt.
Die Fachkräfte-Engpassanalyse der Arbeitsagentur schließt die drei Niveaus Fachkraft, Spezialist und Experte ein. Wenn die Rede von „Fachkräftemangel“ ist, können also je nach Hintergrund sowohl Ausbildungsberufe als auch akademische Berufe gemeint sein.
Das Helfer-Niveau wird innerhalb der Engpassanalyse zwar nicht berücksichtigt, die Rolle des Helfers ist unter den Umständen der Fachkräftesuche aber nicht ganz unbedeutend: Denn nicht wenige Betriebe helfen sich zur Überbrückung einer unbesetzten Fachkraft-Stelle mit angelernten Hilfskräften aus.