Herne. . Die Wanner Synagoge wurde in der Pogromnacht zerstört. Doch es gibt noch Mauerreste. Sie sind in einem verwilderten Garten verborgen.

In der Gartenanlage der ehemaligen Heitkamp-Villa in Wanne-Süd hat die Natur alles überwuchert. Ein Ort wie dieser fordert seinen Besucher. Mühsam arbeitet man sich durch ein dichtes Gestrüpp von Sträuchern und Unkraut mit ausufernden Dornenranken. Mit fast archäologischem Blick entdeckt man die Reste einer früheren Gartengestaltung: vom Regen ausgespülte Pfade und vom Efeu verschlungene Wegeleuchten. Unwillkürlich durchreißt ein Sockel aus rotem Ziegelmauerwerk den Wildwuchs. Er gehört hier nicht hin. Man muss aufpassen, nicht in die Mulde zu stürzen, die sich neben der Mauer auftut. Aber diese gekerbten, geritzten, verwaschenen, mit Grünspan und Moos überdeckten Steine sind Geschichte. Es sind Reste der früheren Synagoge Wanne-Eickels, die in der Nacht zum 10. November 1938 niedergebrannt wurde.

Funken in der Luft

Vor 80 Jahren, nachts gegen 23.30 Uhr, marschierten auch in Wanne-Eickel Nazi-Deutsche geschlossen und in brauner Montur zur Synagoge an der Langekampstraße. Man bemühte sich nicht einmal, den Anschein des „spontanen Volkszorns“ aufrechtzuerhalten. Ludwig Joel Katzenellenbogen, damals zwölf Jahre alt, war in jenen Tagen zu Besuch bei seinem Onkel Max Fritzler, der in der jüdischen Gemeinde als Lehrer arbeitete und in der Dienstwohnung in der Synagoge wohnte. Die Brutalität des Pogroms traf sie unerwartet. „Hinten in der Schule, die zum Synagogenbau gehörte, wurden die Türen eingeschlagen. Fritzlers holten uns aus den Betten. Wir rannten alle in den vorderen Bereich, während es hinten schon anfing zu brennen“, erzählte Katzenellenbogen.

An das, was folgte, erinnerte er sich nur noch bruchstückhaft: „Wir waren starr vor Entsetzen, beinah nackt, nur ein Schlafhemdchen an, und wir schrien lauthals um Hilfe. Man wollte uns verbrennen, und mein Onkel fühlte mit der Hand an der Wand, wie nah das Feuer schon war.“ Plötzlich wurden die Kinder aus einem Fenster herausgeschmissen, das Synagogendach brach hinter ihnen zusammen und ein Polizist führte das Ehepaar Fritzler in letzter Sekunde aus dem brennenden Gebäude heraus. „Dann war es nur noch Nacht und kalt und die Funken der Synagoge stieben durch die Luft“, so Joel Katzenellenbogen.

Die anrückende Feuerwehr kümmerte sich ausschließlich darum, dass das Feuer nicht auf andere Gebäude übersprang. Gelöscht wurde nicht.

Hypotheken und Heitkamp

Ende November 1938 sorgte der Bauunternehmer Ferdinand Dick für den von der Stadt Wanne-Eickel aus „sicherheitspolizeilichen Gründen“ angeordneten Abbruch der abgebrannten Synagoge. Die Kosten von 2800,- Mark wurden der jüdischen Gemeinde in Rechnung gestellt. In der Logik der NS-Behörden waren die Juden selbst schuld an ihrem Unglück, also mussten sie auch dafür bezahlen.

Die städtischen Ansprüche wurden durch Zwangssicherungshypotheken im Grundbuch gesichert. Der benachbarte Tiefbauunternehmer Heinrich Heitkamp signalisierte sein Kaufinteresse an dem brachliegenden, 599 Quadratmeter großen Grundstück. Am 24. April 1939 erwarb er die (nunmehr) unbebaute Parzelle Flur 13 Nummer 370/33 für 3600 Mark. Der Kaufpreis wurde dem Kaufmann Albert Klestadt, dem letzten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, bei der notariellen Verhandlung in bar ausgehändigt und sofort von der Stadtkasse für die Hypothekentilgung konfisziert.

Das Synagogengrundstück ging damit in den Besitz der Familie Heitkamp über. Der Lehrer Max Fritzler floh im Januar 1939 mit seiner Familie nach Argentinien. Ebenfalls mit an Bord war Joel Katzenellenbogen. Albert Klestadt und seine Frau Lisette wurden im April 1942 deportiert und in der Shoah ermordet – wie 130 weitere jüdische Menschen aus Wanne-Eickel.

1950 wurden in Folge der Wiedergutmachung für enteignetes jüdisches Vermögen auch Forderungen gegenüber dem Wanne-Eickeler Bauunternehmen erhoben. Heitkamp willigte in einen Vergleich ein und bezahlte eine Entschädigung von 3800,- DM an die jüdische Treuhandgesellschaft. Das Gelände blieb im Familienbesitz, aber weder wurde es bebaut noch wurden die alten Einfriedungen der Synagoge komplett abgeräumt.

Trauerspiel „Gedenken“

Im Mai 1971 wandte sich der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dr. Julius Leeser, mit einem besonderen Anliegen an die Stadt Wanne-Eickel: „Sehr gerne würde ich mit vielen den Holocaust glücklich Überlebenden sehen, wenn an der Stelle der verbrannten Synagoge zur Erinnerung eine Plakette angebracht würde und eine Tafel mit den Namen der ermordeten Juden.“

Aber wo sollte die Gedenktafel hin? Über das Treffen mit dem Eigentümer des ehemaligen Synagogengrundstücks heißt es in einer knappen Notiz der Stadtverwaltung: „Nach dem mit Herrn Heitkamp geführtem Gespräch erwies sich die Errichtung eines Ehrenmales auf seinem Grundstück als nicht durchführbar.“ Aus Jerusalem kommentierte Julius Leeser bitter: „Auch bin ich ganz entschieden dagegen, früher bekannte Nazis um etwas zu bitten.“

Letztlich schaffte es die Stadt Wanne-Eickel nicht, der Opfer der Shoah zu gedenken. Erst im November 2013 wurde durch die Stadt Herne in Zusammenarbeit mit der Gesamtschule Wanne-Eickel eine Erinnerungstafel am historischen Synagogengelände angebracht.

Vom Verschwinden eines Grundstücks

Im Rahmen der Flurbereinigung wurden 1969 das Synagogengelände und das Privatgrundstück Heitkamps zu einem neuen Flurstück vereint, so dass im Grundbuch die Hinweise auf frühere Eigentumsverhältnisse verschwanden. Außerdem entstand im Jahr 2008 eine neue Liegenschaft mit der Bezeichnung „Langekampstraße 48“, die aus der Teilung des Nachbargrundstücks hervorging.

Wer also amtlicherseits nach dem Synagogengelände sucht, findet nichts. Oder besser gesagt: lauter unbelastete Grundstücke. Allein die alte Grundbuchakte „Langekampstraße 48“ könnte noch Auskunft geben, aber die liegt im Keller des Amtsgerichts Herne-Wanne und ist dem Vergessen anheim gegeben.

Steine

Die Geschichte eines Grundstücks führt uns in die Geschichte unserer Stadt und unseres Landes. Die Heitkamp-Bauholding ist längst passé und die Villa mit ihrem Schwimmbad, dem Kühlhaus und dem Gymnastikraum in einem verlorenen Zustand. Eine Immobilienfirma arbeitet an der Wiederbelebung des Geländes, aber noch wiegt die Vergangenheit schwerer als die Zukunft. Im Dickicht des riesigen, verschlungenen Gartens steht man vor diesen Steinen und möchte aufschreien.