Herne. Vor sechs Jahren sollte Rokan Dalaf nach Syrien abgeschoben werden. Erst Proteste Hunderter Herner retteten sie. Nun erzählt sie ihre Geschichte.
Es ist ein schwerer Vormittag für Rokan Dalaf, die junge Frau will stark sein. Sie trägt schwarz, von den Hackenschuhen bis zum Top, auch die braunen Augen hat sie mit Eyeliner schwarz umrandet. Nur die roten Lippen sind ein Farbtupfer in Rokans dunklem Gesicht, sie wirkt kontrolliert, angestrengt.
Gestern Morgen im Pestalozzi-Gymnasium: Rokan ist zurückgekehrt an ihre alte Schule, die sich in diesen Tagen intensiv mit dem Schicksal von Flüchtlingen beschäftigt. Dalaf will der 8a von ihrem Kampf erzählen, will darüber sprechen, wie Behörden sie, ihre drei Schwestern und ihre Eltern vor bald sechs Jahren um ein Haar nach Syrien abgeschoben hätten. Es waren dramatische Monate im Sommer und Herbst 2009, Politiker, Journalisten und vor allem viele Herner Bürger nahmen Anteil am Schicksal der Familie, die sieben Jahre zuvor nach Deutschland geflohen war und der in Syrien ein ungewisses Los drohte. Jetzt also Rokans Rückkehr. Wie würden die Schüler, wie würde sie reagieren?
Flüchtlinge kennen sie nur aus der „Tagesschau“
Die Jugendlichen sitzen in einem Stuhlkreis um Dalaf herum, keiner tuschelt, keiner schaut auf sein Handy, als die 24-Jährige zu erzählen beginnt. Schon die Flucht aus Syrien über das Mittelmeer war „schrecklich. Aber dazu möchte ich jetzt nicht so viel sagen.“ In Deutschland angekommen, landeten die Dalafs in der schmucklosen Asylantensiedlung am Zechenring, direkt neben der Autobahn. Ob jemand schonmal dort gewesen sei, will Rokans Begleiterin Silke Masannek von den Schülern wissen, deren Tochter mit einem der Dalaf-Mädchen befreundet war und die damals Demos gegen die Abschiebungen organisierte. Keiner der Achtklässler meldet sich – Flüchtlinge kennen sie nur aus der „Tagesschau“.
Die vier Schwestern fanden schnell Anschluss in Herne. Rokan arbeitete sich hoch, wechselte von der Haupt- auf die Realschule und schließlich aufs Pestalozzi. Sie träumte davon, Lehrerin zu werden. Doch als im Juli 2009 ein Brief bei den Dalafs eintraf, der die baldige Abschiebung nach Damaskus ankündigte, brach auch für Rokan eine Welt zusammen. „Ich wollte nicht nach Syrien, das kam nicht in Frage. Ich wollte studieren, nicht auf einem Feld arbeiten.“ Als Jesiden wurden die Dalafs in Syrien unterdrückt. „Was wir erlebt haben, wünsche ich niemandem.“ Rokan stockt, sie verbirgt ihr Gesicht hinter ihren Händen, doch dann spricht sie weiter. „Wir konnten nicht einmal zuhause übernachten, aus Angst, dass sie uns aus der Wohnung holen. Es war aussichtslos.“ Erst als Hunderte Mitschüler und Freunde vor dem Rathaus demonstrierten und den Landtag einschalteten, durften die Dalafs bleiben. Heute studiert Rokan in Essen Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Ihr Traum hat sich erfüllt.
Wunsch nach mehr Verständnis
Aber die Familie erfuhr nicht nur Menschlichkeit. „Es kamen auch Kommentare wie: Ihr wollt euch doch in Deutschland einfach nur ein schönes Leben machen“, sagt Rokan. Ihre Stimme klingt jetzt wütend, sie wischt sich Tränen aus den Augenwinkeln. „Diese Leute hatten als Außenstehende keine Ahnung von unserer Situation, haben aber die Klappe aufgerissen.“ Sie wünsche sich, dass die Deutschen mehr Verständnis hätten für Schutzsuchende aus aller Welt. Rokan blickt in die Runde: „Ich hoffe, dass auch ihr durch solche Gespräche offener werdet.“