Hattingen. Ein jüdisches Schicksal: Selma Abraham wurde nach Riga deportiert und 1964 für tot erklärt. Heute erinnert ein Stolperstein an die Hattingerin.

Geboren im Bügeleisenhaus. Gelebt und gearbeitet in Hattingen, gehei­ratet in Duisburg. Sie ist Jüdin inmitten der Nazizeit: Selma Abraham. Verachtet von den Machthabern. Deportiert ins lettische Ghetto nach Riga, vermutlich am 11. Dezember 1941, dem Tag, an dem sich ihre Lebensspur verliert. 23 Jahre später wird sie für tot erklärt.

Der Stolperstein von Selma Abraham vor dem Bügeleisenhaus.
Der Stolperstein von Selma Abraham vor dem Bügeleisenhaus. © WAZ FotoPool | Volker Speckenwirth

Im Dezember 2005 wird Selma Abrahams Lebensspur wieder aufge­nommen. Vor dem Bügeleisenhaus, dessen letzte jüdische Besitzerin sie gewesen ist, wird ein Stolperstein verlegt – eine 96 x 96 Millimeter große Erinnerung, von denen es in Hattingen 18 Stück gibt. Gegen das Vergessen der Nazi-Verbrechen, für die Erinnerung an Menschen, die erst ausgegrenzt und dann ums Leben gebracht werden.

Unten wird geschlachtet, oben wird gewohnt

Selma Abraham wird am 7. Juli 1886 als Tochter des jüdischen Metzger-Ehepaars Nathan und Amalie Cahn geboren; am Haldenplatz 1, dem Bügeleisenhaus, das bereits seit mehr als 250 Jahren durch seine markante Form ein Wahrzeichen der kleinen Stadt Hattingen ist. Unten wird geschlachtet und verkauft, oben wird gewohnt.

Die Familie steht mitten im Leben, ist anerkannt und beliebt, mischt mit in Vereinen, entspricht in keiner Weise den Vorurteilen, die Juden immer wieder entgegenschlagen – sogar nichtkoscheres Fleisch bieten sie in der Metzgerei an. Selma hilft mit, steht ihren Eltern treu zur Seite. Während ihre Zwillingsschwester Johanna mit Mitte 20 das Elternhaus verlässt, bleibt sie noch lange in Hattingen: Die Cahns ziehen an die Bruchstraße 40, die Metzgerei wird an die Bruchstraße 5 verlegt. Das Bügeleisenhaus wird zum Mietshaus und bleibt im Familienbesitz. Erst im Alter von 41 Jahren (und nach der Heirat mit Metzgermeister Al­fred Abraham) verlässt sie ihre Heimat und zieht nach Meiderich.

Mutter vermacht das Bügeleisenhaus ihrer Tochter

Der Vater stirbt 1933, die Mutter schließlich, 92-jährig, im Juli 1940. Zuvor vermacht Amalie Cahn das Bügeleisenhaus ihrer Tochter: Als „Ausgleich für die Pflege und Verpflegung, die mir meine Tochter Selma bis zu meinem Tode angedeihen lässt, sowie für die Kosten einer standesgemäßen Beerdigung nach meinem Ableben“, wie überliefert ist.

Ja, das Haus fällt als Erbe an Selma; Nein, sie hat gar nichts davon. Denn das Bügeleisenhaus wird als jüdisches Eigentum zunächst dem Oberfinanzpräsidenten von Westfalen zur Verwaltung und Verwertung übertragen. Weil es wegen des schlechten Zustands keine Kaufinteressenten gibt, folgt die Enteignung zu Gunsten des Deutschen Reiches. Auch der Heimatverein, der nach der Pogromnacht 1938 mit einem rassistischen Antrag auf „Arisierung“ sein Kaufinteresse bekundet hat, geht leer aus.

Ihr letzter Leidensweg beginnt am 11. Dezember 1941

Der Platz vor dem Bügeleisenhaus wurde im November 2014 für ein Wochenende in Selma Abraham Platz unbenannt. Rechts: Lars Friedrich, Vorsitzender des Heimatvereins Hattingen/Ruhr.
Der Platz vor dem Bügeleisenhaus wurde im November 2014 für ein Wochenende in Selma Abraham Platz unbenannt. Rechts: Lars Friedrich, Vorsitzender des Heimatvereins Hattingen/Ruhr. © WAZ FotoPool | Volker Speckenwirth

Die Enteignung wird im Juli 1942 vollzogen. Ob Selma Abraham und ihr Ehemann da noch leben, vermag keiner zu sagen. Ihr letzter Leidensweg beginnt am 11. Dezember 1941: der Transport ins lettische Judenghetto Riga, bei eisigen Minusgraden und in unbeheizten Waggons. Ein Polizist berichtet, in widerwärtiger Nüchternheit: „Der Judentransport umfasste 1007 Juden aus den Städten Duisburg und Krefeld. Die Ablassung des Transportes war für 9.30 Uhr vorgesehen, weshalb die Juden bereits ab 4 Uhr an der Verladerampe bereitgestellt waren.“

Am 13. Dezember erreichte der Transport gegen 22 Uhr Riga. „Der Zug blieb ungeheizt stehen. Die Außentemperatur betrug bereits zwölf Grad unter Null. Da es bereits nach Mitternacht war, Dunkelheit herrschte und die Verladerampe stark vereist war, sollte die Ausladung und die Überführung der Juden in das noch zwei Kilometer entfernt liegende Sammelghetto erst am Sonntag beim Hellwerden erfolgen.“ In Riga verliert sich die Spur der Eheleute Abraham.

Jewish Trust Corporation übernimmt die Verwaltung

Nach dem Krieg übernimmt die Jewish Trust Corporation die Verwaltung des Bügeleisenhauses und verkauft es im Jahr 1955 an den Heimatverein Hattingen. Neun Jahre später wird Selma Abraham für tot erklärt.