Gladbeck. Julia Bernhardt betreibt eine logopädische Praxis. Sie merkt, dass der Therapiebedarf immer größer wird, nicht nur bei Kindern.
Nanu, was ist nur mit meinem Kind los? Während Gleichaltrige munter – und verständlich – vor sich hinplappern, lässt der eigene Nachwuchs nur wenig von sich hören. Und dann spricht er womöglich auch noch Laute falsch aus. Julia Bernhardt kann klären, woran es liegt. Und noch andere Störungen, die sie in ihrer logopädischen Praxis in Gladbeck behandelt.
Denn Sprachstörungen sind keineswegs eine Seltenheit. Julia Bernhardt, die seit 25 Jahren ihre Praxis in Gladbeck betreibt, stellt fest: „Die Qualität der Störungen im Kindesalter hat sich stark verändert, teilweise kann man Kinder überhaupt nicht verstehen.“ Früher sei häufig Lispeln ein Problem gewesen. Also bei bestimmten Lauten das nicht korrekte Anstoßen mit der Zunge an die oberen Vorderzähne. Mittlerweile „haben wir es viel mehr mit Lauten zu tun, die Kinder nicht aussprechen können, nicht nur mit S und Sch“. Ein T statt eines Ks, da kommt dann so etwas wie „Tatau“ statt „Kakao“ heraus.
Sprachtherapeutin Bernhardt stellt fest: Störungen sind massiver geworden
Oder wenn ein F nicht richtig über die Lippen kommen will, wird aus dem „Affen“ halt der „Appe“. Statt „Roller“ kann es auch mal „Holler“ heißen, wenn‘s mit der fehlerfreien Artikulation nicht klappt.
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„Andere Kinder schaffen nicht den richtigen Satzbau“, erzählt Julia Bernhardt. Die 53-jährige gebürtige Gladbeckerin hat auch für diese Störung ein Beispiel parat: „Gehen in die Schule“ statt „in die Schule gehen“.
Wer nun denkt, das Zusammensetzen von Wörtern zu einem ganzen Satz könne von den Kleinen nicht frühzeitig erwartet werden, irrt. Spezialistin Bernhardt erklärt: „Sprache entwickelt ein Kind wie den Schritt vom Krabbeln zum Laufen. Mit vier Jahren ist die Grammatik soweit vorhanden, dass es einfache Sätze bilden kann.“
Dabei spiele die Wahrnehmung des kindlichen Umfelds eine wichtige Rolle. Bernhadt erläutert: „Es ist zum Beispiel für Kinder mit Migrationshintergrund nicht förderlich, wenn Eltern gebrochen Deutsch sprechen.“ Die Folge, vereinfacht gesagt: Der Nachwuchs übernimmt die Fehler, „als Modell dient falsches Deutsch“. Daher empfiehlt die Sprachtherapeutin: „Es ist es besser, wenn ein Elternteil korrekt in der Muttersprache redet, und das andere oder Geschwister in korrektem Deutsch.“
Ohne eine ärztliche Verordnung ist eine logopädische Therapie nicht möglich
Julia Bernhardt erinnert sich an die Anfänge ihrer Praxis: „Damals gab es nur einen Sprachtherapeuten in Gladbeck. Als ich begonnen habe, war der Terminkalender innerhalb eines Monats gefüllt.“ Eine Warteliste wurde geführt. Sie ist geblieben.
Denn der Bedarf ist gestiegen. „Die Entwicklungsstörungen nehmen zu“, stellt Julia Bernhardt fest. Woran das liegt? „Die Wissenschaft ist da nicht eindeutig.“ Als einen Grund kann sich die 53-Jährige die Flut unterschiedlicher, moderner Medien vorstellen: „Wir hatten früher eine andere Sinneswahrnehmung, sind im Wald spielen gegangen, waren selbstständig. Heutzutage gibt es deutlich mehr Möglichkeiten des Medienkonsums, zu viel Input.“
Ein Kind muss sich ausdrücken
Auf der anderen Seite: weniger Wege, „verbal zu kommunizieren“. Die Sprachtherapeutin betont: „Es geht ja nicht nur darum, dass ich Worte höre, sondern auch darum, dass ich sie selber spreche.“ Ein Kind müsse sich ausprobieren, sich ausdrücken.
Der Gladbecker Carsten Rothert, der im Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Butendorf praktiziert, sieht drei Risikofaktoren, die kindliche Sprachstörungen nach sich ziehen können. Er sagt: „Ein Kindergartenplatz macht sehr viel aus. Dort kommen die Mädchen und Jungen ganz schnell ans Sprechen. Und ein Kind gibt ganz schnell Gas, wenn es merkt, dass es mit den anderen nicht mithalten kann. Der Ehrgeiz wird im Miteinander stark angestachelt.“ Den Kindergarten-Besuch nennt der Kinderarzt „essenziell“. Mädchen und Jungen bräuchten Sozialisation: „Je früher, desto besser!“
Aber es gebe keine (guten) Förderprogramme: „Das ist tragisch und schade.“ Denn es sei nicht sinnstiftend, Familien mit Migrationshintergrund zu sagen: Ihr müsst auf Biegen und Brechen Deutsch sprechen. Auf den richtigen Spracherwerb komme es an.
Gladbecker Kinderarzt erkennt drei Risikofaktoren
Risikofaktor zwei: prekäre Lebensumstände und Armut. „Je ärmer eine Stadt, je mehr Hartz-IV-Familien und Arbeitslose, je höher der Migrantenanteil, desto mehr Probleme auf allen Ebenen“, registriert der Mediziner. Vielleicht gehen die Kleinen nicht in den Kindergarten, vielleicht wird im Elternhaus sehr schlecht bis überhaupt nicht (fehlerloses) Deutsch gesprochen – allesamt ungünstige Voraussetzungen. Hinzu komme, wie auch Julia Bernhardt anführt, der Umgang mit Medien. Rothert berichtet: „Viele Kinder gehen nicht in den Kindergarten, sondern werden vor dem Fernseher geparkt. Ich habe in der Praxis bei einem Impftermin schon Einjährige mit Schnuller erlebt, die perfekt die Wischbewegung auf dem Handy beherrschten.“
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Kinderärzte verschreiben Verordnungen für Logopädie wie ein Rezept – ein Muss für die Therapie. Rothert konstatiert: „Wir diagnostizieren verschiedene Sprachstörungen wie unter anderem Aussprache und Sprachfluss. Und wir haben einen Verordnungszuwachs.“
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Kommen die Kinder, meistens mit ihren Müttern, in die logopädische Praxis von Julia Bernhardt, steht am Anfang die Anamnese. Kernfrage: Welches Problem liegt vor? Häufiger gebe es Hörprobleme, die zu Artikulationsschwierigkeiten führen, aber auch mangelnde Konzentrationsfähigkeiten stellen Bernhardt und ihre Kolleginnen immer wieder fest. Per Testmaterial ermitteln Bernhardt & Co. den Status quo von Wortschatz, Ausdruck, Satzbau und motorischer Befähigung: Wie funktionieren bestimmte Bewegungen der Lippen und des Mundes.
Meistens, so die Gladbecker Sprachtherapeutin, arbeiten sie in ihrer Praxis einzeln spielerisch mit den Kindern, „weil sie sich auf uns einlassen sollen“. Ganz wichtig: „Es geht um Sprachfreude, ohne Spaß funktioniert das nicht.“
Sprachtherapeutin: Manchmal können sich die Sitzungen über Jahre hinziehen
Manche Kinder benötigen zehn bis 20 Sitzungen, bei massiven Störungen kann sich die Therapie über Jahre ziehen. Erfolgsquote? Julia Bernhardt schätzt: „98 Prozent.“
Ausbildung und Perspektiven
Julia Bernhardt erzählt: „Nach einem Praktikum habe ich den logopädischen Beruf für mich entdeckt.“ Sie sei froh, damals einen Einblick in dieses Tätigkeitsfeld bekommen zu haben.
Sie habe zunächst Lehrerin werden wollen, so die 53-Jährige, wie ihre Mutter. „Doch dann habe ich mich umorientiert“, berichtet Julia Bernhardt.
Sie studierte in Dortmund Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt „Sondererziehung und Rehabilitation, spezialisiert auf Sprachtherapie“. Mit dem Abschluss war sie Sprachtherapeutin. Sie erklärt: „Logopädin darf ich mich nicht nennen, weil das eine Ausbildung an einer Fachhochschule bedeutet.“ Die Bezeichnung „Sprachtherapeut“ ist keine geschützte Bezeichnung, das gelte ebenfalls für den Begriff „logopädische Praxis“.
Zweieinhalb Jahre war die Sprachtherapeutin in einer Reha-Klinik tätig, in der beispielsweise Menschen mit Kehlkopfkrebs behandelt wurden. „Da habe ich hauptsächlich Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht“, so die Expertin. Sie arbeitete zudem in einer ambulanten Praxis mit Kindern.
Seit 25 Jahren betreibt sie ihre eigene Praxis. An der Hochstraße 29-31 in Gladbeck ist sie mit zwei langjährigen Mitarbeiterinnen tätig. Julia Bernhardt sagt: „Ich hätte gerne noch Verstärkung.“
Kinder machen etwa die Hälfte ihrer Klientel aus. Die zweifache Mutter ergänzt: „Ich arbeite mit Erwachsenen, beispielsweise nach einem Schlaganfall. Dann können Sprechen und Schlucken betroffen sein. Zu den Symptomen bei MS und Parkinson gehören sehr leises Sprechen und Heiserkeit.“ Bei Schlaganfall-Patienten könne die Sprache verloren gehen, dann müsse Wortbildung und -schatz aufgebaut werden.
Bei der Hälfte der Patienten handelt es sich um Erwachsene
„Wir haben sehr viel mehr Krebspatienten als früher“, so Bernhardt, die auch Hausbesuche macht und in Pflegeheime geht. Auch Lehrkräfte suchen die Sprachtherapeutin auf – weil die Stimme überlastet ist.