Gladbeck. Der Münchener Siemens-Konzern schloss 1991 sein Telefonwerk in Gladbeck. Es gab Proteste und Demos. Vergeblich: 980 Jobs gingen verloren.
Horst Burdeska kommt es manchmal vor wie gestern, als in Gladbeck um das Siemenswerk gekämpft wurde. Tatsächlich ist es in diesen Tagen und Wochen aber schon 30 Jahre her, dass die Konzernzentrale im fernen München den Daumen über das Werk im nördlichen Ruhrgebiet senkte und die Belegschaft im Schulterschluss mit vielen Gladbeckern, der IG Metall und der damaligen Stadtspitze beherzt und energisch gegen den Schließungsbeschluss gekämpft hat. Ein Hauch von Rheinhausen wehte durch die Stadt. Selbst Landesvater Johannes Rau schaltete sich ein und erinnerte Siemens an seine „soziale Mitverantwortung für die Region“. Am Ende war aber alles vergebens.
Burdeska, der bei Siemens als Betriebselektriker arbeitete und inzwischen 79 Jahre alt ist, war und ist ein Siemensianer durch und durch – 33 Jahre arbeitete er für den Konzern, auch nach der Schließung in Gladbeck noch einige Zeit in Bocholt. An die Zeit im Werk an der Bottroper Straße, in dem (Festnetz-)Telefone produziert wurden, und an die Rettungsversuche denkt er auch heute noch mit viel Wehmut. Er ist sich sicher, dass der Siemens-Standort Gladbeck hätte gerettet werden können, wenn man ihn nur hätte retten wollen. Doch 1991 ließen die zahlreichen Demonstrationen und Proteste der Belegschaft, des Betriebsrates, von Rat und Verwaltung den Konzern kalt – Siemens schloss Ende September, mehr oder weniger unbeeindruckt von den Protesten.
Siemens wollte die Kosten der Telefonproduktion senken
Der Elektronik-Konzern begründete seinen Schließungsbeschluss damit, die Produktionskosten wegen des zunehmenden Preisdrucks seit Aufgabe des Postmonopols 1990, vor allem durch Apparate aus Billiglohnländern, senken zu müssen. Daher konzentriere man, wie es damals hieß, die Fertigung von Telefonen aus Kostengründen im 55 Kilometer entfernten Bocholter Telefonwerk. 980 Menschen, zu gut einem Dreiviertel Frauen, arbeiteten zu diesem Zeitpunkt noch in der Gladbecker Fertigung.
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Der Konzern war Anfang der 60er, als das Zechensterben Fahrt aufnahm, als der große Hoffnungsträger in Gladbeck gestartet, die Ansiedlung wurde als Teil der Umstrukturierung der Ruhrwirtschaft gefeiert. Es glich einer Sensation, dass der Weltkonzern – ähnlich der Opel-Ansiedlung in Bochum – in der Revierstadt, hochsubventioniert durch die Stadt, kräftig investierte und viele zukunftssichere Arbeitsplätze versprach – bis zu 5500. Auf einer Fläche von 192.000 Quadratmetern entstand an der Bottroper Straße in Ellinghorst – gegenüber von Rockwool – eine kleine Siemensstadt, in der ab 1962 Fernsprechtechnik hergestellt wurde – inklusive der Endfertigung von Telefonen.
Siemens produzierte in Gladbeck von 1962 bis 1991
Allerdings erreichte Siemens zu keinem Zeitpunkt die versprochene Belegschaftsstärke. 4500 waren es kurzzeitig in den besten Jahren, zuletzt nur noch 980. Schon Ende der 70er Jahre kriselte es immer wieder mal bei Siemens Gladbeck, 1982 stand das Werk kurz vor dem Aus. In jenem Jahr halfen noch Proteste, auch der Stadtführung, sowie innerbetriebliche Umstrukturierungen, die Werksschließung aufzuhalten. Immer wieder gab es Gerüchte über die Zukunft des Werks, kontinuierlich wurde Personal abgebaut, noch 1990 hatte Siemens 600 Stellen in Gladbeck gestrichen.
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Dann die Hiobsbotschaft der Schließung im Januar 1991, die eine Welle des Protestes auslöste, wie sie Gladbeck nur selten erlebt hat: Spontane Arbeitsniederlegungen im Werk, Protestmärsche vom Firmengelände zum Rathaus, eine per Lautsprecher übertragene Sondersitzung des Stadtrates, eine Protestfahrt zur Siemens-Zentrale nach München, viele politische Gespräche, Verhandlungen und „runde Tische“ mit Siemens, TV-Berichte von der Tagesschau bis zum „heute“-journal.
980 Arbeitsplätze gingen im Werk Gladbeck verloren
Die Empörung über die plötzliche Schließung trotz unbestritten guter Auftragslage war riesengroß: „Man hat uns belogen und betrogen“, klagte der damalige Betriebsrats-Chef Wolfgang Triller. „Wir sind alle getäuscht worden“, formulierte Bürgermeister Wolfgang Röken (SPD). Von einer „Nacht- und Nebelaktion“ sprach IG-Metall-Gewerkschaftssekretär Hubert Ulatowski. Aller Protest halft nichts: Nach fast 30 Jahren schloss das Werk, die Telefon-Fertigung ging nach Bocholt. Und Gladbeck verlor 980 Jobs.
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Ein Teil der Belegschaft schied über Abfindungen aus, ein anderer wurde per kostenlosem Bustransfer für einige Zeit täglich nach Bocholt geschafft. Zur Abfederung der Auswirkungen auf die Stadt stellte die Siemens AG für die „Stiftung Zukunftswerkstatt Gladbeck“ 1,5 Millionen Mark bereit. Doch die Verbitterung blieb: Als 1993 das große Stockwerksgebäude und weitere Hallen gesprengt wurden, schauten viele Menschen mit traurigen Gesichtern zu. Wirtschaftlich konnte die Stadt die Siemens-Fläche reaktiveren, allerdings längst nicht mit so vielen Arbeitsplätzen.
Viele Erinnerungen werden wach
Horst Burdeska fing als Betriebselektriker 1963 bei Siemens an und und war in verschiedenen Werksbereichen tätig. Gern erinnert er sich an die Zeit zurück. „Der Zusammenhalt der Belegschaft war einmalig. Die Kollegen haben sich füreinander eingesetzt. Ich habe mich bei Siemens wohl gefühlt.“
Noch heute trifft er sich einmal jährlich mit ehemaligen Arbeitskollegen der Betriebsunterhaltung. Dann tauschen sie ihre Erinnerungen an die einstige Siemenszeit und an die Protest-Aktionen vor 30 Jahren aus. Es war, so Burdeska, ein Kampf, der tiefe Spuren in ihrem Leben hinterlassen hat.