Gladbeck. Kai (32) lebt auf der Straße. Hilfe will er nicht. Warum sich die Wohnungslosenhilfe Gladbeck um Menschen wie ihn jetzt ganz besonders sorgt.
Es ist eisig kalt in Gladbeck. Kai sitzt, wie seit mehr als zwei Jahren fast täglich, in der Fußgängerzone, an eine Hauswand gelehnt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Beine angewinkelt und von den Armen umschlungen. Vor ihm steht ein Pappbecher. Manchmal wirft ein Passant eine Münze hinein, manchmal reicht ihm jemand etwas zu essen, ein warmes Getränk oder eine Zigarette. Kai ist wohnungslos. Sein Zuhause ist die Straße, seit seine Freundin und er sich getrennt haben und er ausziehen musste.
Kais Schlafzimmer ist eine Nische unter einer Brücke in Gladbeck
Der 32-Jährige ist einer der wenigen Menschen in Gladbeck, die im Freien auch schlafen – selbst bei diesen Temperaturen. Sein „Schlafzimmer“ ist eine Nische unter der Brücke am Bahnhof West. „Klar, da gibt es auch Ratten“, sagt er, „und besonders sauber ist es da auch nicht. Aber unattraktive Plätze haben den Vorteil, dass dort nicht so viele Menschen hinkommen.“ Nur hin und wieder geselle sich ein anderer Wohnungsloser zu ihm. Angst vor dem Kältetod hat er nicht: „Ich habe Schlafsäcke und dicke Decken.“
Die städtische Notunterkunft an der Boy ist für Kai keine Alternative: „Da sind zu viele Menschen auf engem Raum. Einmal haben mich Mitarbeiter vom Sozialamt dort hingebracht. Aber ich bin wieder abgehauen.“ Menschen wie Kai sind es, die Annette Frerick, Leiterin der Caritas-Wohnungslosenhilfe, die größten Sorgen machen. Sie und ihr Team halten Kontakt zu etwa 140 Männern und Frauen, die keine Wohnung und ihre Meldeadresse in der Beratungsstelle haben. „Die allermeisten schlafen aber nicht draußen, können bei Verwandten oder Bekannten übernachten“, weiß Annette Frerick.
In der Pandemie ist auch die Tagesstätte für Wohnungslose an der Humboldtstraße geschlossen
Und sie konnten sich – vor Ausbruch der Pandemie – tagsüber in der Tagesstätte an der Humboldtstraße aufhalten, bekamen Frühstück und ein Mittagessen, konnten spielen, lesen oder einfach nur quatschen. Das alles fällt jetzt wegen der coronabedingten Auflagen aus, und damit gehen auch die Beratungen zurück, obwohl dieses Angebot auch jetzt besteht. Annette Frerick: „Die wenigsten Leute kommen speziell deswegen, die meisten Gespräche entwickeln sich, wenn sie ohnehin bei uns sind.“
Drei Mal in der Woche kommen viele trotzdem – wenn auch nur bis zur Tür. Dann können sie sich Carepakete abholen: Sandwiches, Eier, Süßigkeiten . . . Einmal pro Woche gibt’s außerdem Handyguthaben und einen 10-Euro-Gutschein, mit dem sie sich in einer Fleischerei in der City etwas zu essen kaufen können. Finanziert wird das über die Winternothilfe des Landes NRW, genau wie Schlafsäcke und warme Bekleidung. An dicken Sachen mangelt es ohnehin nicht. Frerick: „Wir bekommen so viele Sachspenden, dass wir sie kaum noch lagern können.“
Mit Hilfe der Drogenberatungsstelle Drop out will Kai sein Leben wieder in den Griff bekommen
Niemand muss im Freien übernachten
„In Gladbeck muss niemand im Freien schlafen“, sagt Thomas Andres, Leiter des städtischen Amtes für Soziales und Wohnen. In der städtischen Notunterkunft an der Boy übernachteten aktuell zehn Personen, für sieben Einzelpersonen gebe es dort noch Betten.
Familien, die plötzlich wohnungslos geworden sind, beispielsweise durch eine Zwangsräumung, bringe man vorübergehend im Übergangsheim an der Winkelstraße unter. Wer an der Boy übernachten will, muss sich einen Berechtigungsschein im Sozialamt an der Wilhelmstraße abholen. Der gilt eigentlich nur für eine Nacht, „nach dem Wintereinbruch können die Leute aber auch mehrmals kommen“, so Andres.
Vermeiden wolle man allerdings, dass sich jemand in der Notunterkunft „festsetzt“. Andres: „Das kommt auch schon mal vor. Wir versuchen, das zu verhindern, weil den Menschen sonst die Motivation fehlt, mit Hilfe unserer Sozialarbeiter wieder in normale Wohnverhältnisse zu kommen. Bei den derzeitigen Temperaturen nachts drücken wir aber natürlich alle Augen zu.“
Kai schlägt solche Hilfsangebote aus. „Ich habe keinen Bock, mir blöde Sprüche anzuhören“, sagt er zur Begründung lapidar. „Ich komme auch so klar.“ Dem 32-Jährigen ist sehr bewusst, dass er sich die Situation, in der er steckt, selbst eingebrockt hat: „Ich habe viel Mist gebaut, bin mehrmals straffällig geworden, habe Drogen genommen und Alkohol getrunken. Also habe ich keinen Grund zu jammern oder Anderen die Schuld zuzuschieben.“ Folgerichtig will er versuchen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, mit Hilfe der Drogenberatungsstelle Drop out, wo er gemeldet ist.
Er will herausbekommen, warum seine Hartz-IV-Zahlungen seit geraumer Zeit nicht ankommen. Und Kai will vor allem mit Unterstützung der Fachkräfte noch einmal versuchen, einen Platz in einer Langzeit-Therapieeinrichtung zu bekommen. Bisherige Versuche hatten nicht die erhoffte Wirkung, jetzt, glaubt Kai, bringe er die nötigen Voraussetzungen mit: „Hier auf der Straße habe ich viel Zeit nachzudenken. Ich habe meine psychischen Probleme lange verdrängt, aber jetzt weiß ich, welche Fehler ich gemacht habe und manchmal immer noch mache, und ich weiß, dass mir nur eine Therapie helfen kann.“
Vielleicht kann Kai dann ja irgendwann sein „Schlafzimmer“ am Bahnhof wieder gegen eine Wohnung tauschen.