Gladbeck. Geboren wurde Rudolf Hess am 5. Dezember 1920 in der Lausitz. Seit den 1960ern ist er in Gladbeck zuhause. Ein bewegtes Leben im Rückblick.
„Hast du schon deine Schulaufgaben gemacht? Dann kannst du den Leichenwagen waschen.“ An dieses fast tägliche Ritual aus Kindertagen erinnert sich Rudolf Hess bis heute: „Mein Vater war Tischlermeister und ein guter Sargtischler. Das Erste, was er angeschafft hat, war ein moderner Leichenwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde.“ Heute, am 5. Dezember 2020, feiert der gebürtige Lausitzer, der seit den 1960er Jahren in Gladbeck lebt, seinen 100. Geburtstag .
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Im Wohnzimmer des – trotz seines hohen Alters – geistig sehr präsenten und geradezu agilen Jubilars, hängt ein Bild seines Heimatortes Christianstadt, der heute zu Polen gehört. Dort absolvierte Hess die Volksschule und wechselte anschließend an die „Knaben- und Mädchen Mittelschule“ in der Kreisstadt Sorau. Nach der Mittleren Reife absolvierte er eine Katasterlehre, die Ausbildung zum Vermessungstechniker: „Ich habe den Beruf geliebt, weil ich nicht immer im Büro sitzen, sondern auch mal draußen arbeiten wollte“, erinnert sich Rudolf Hess. Doch dazu sollte es erst einmal nicht kommen.
Gladbeck: Mit 19 Jahren musste Rudolf Hess in den Krieg ziehen
Gerade mal 19 Jahre alt, musste er 1939 in den Krieg ziehen: „Ich bin drei Mal schwer verwundet worden“, berichtet Hess, „in Belgien, in Russland und zu guter Letzt auf dem Rückzug in Deutschland. Im Lazarett habe er neben einem Soldaten aus dem bayerischen Straubing gelegen, der zu ihm sagte: „Der Krieg ist zu Ende, komm mit nach Straubing, da gibt’s noch Butterschmalz.“ Das betagte Geburtstagskind muss trotz allem schmunzeln bei dieser Erinnerung. Die „Einladung“ habe er dann angenommen, wusste er doch inzwischen, dass Mutter und Schwester nach der Flucht bei Verwandten in Berlin untergekommen waren. In Niederbayern trafen sie alle wieder zusammen.
Sein Name, der auch andere Assoziationen hervorrufe, sagt Hess, habe sein ganzes Leben lang für Irritationen gesorgt. Immer wieder musste er erklären, dass der spätere Kriegsverbrecher gleichen Namens (geboren 1894) zum Zeitpunkt seiner eigenen Geburt vor 100 Jahren noch völlig unbekannt war: „Als ich 1920 geboren wurde, kannte kein Mensch Rudolf Heß. Ich habe mich damit abgefunden, immer wieder gefragt zu werden.“
Jahrzehnt mit zwei Gesichtern
1920, das Geburtsjahr von Rudolf Hess, läutete ein Jahrzehnt ein, das zwei Gesichter hatte. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges führte der Vertrag von Versailles zu Reparationszahlungen und Gebietsverlusten.
Attentate auf führende Politiker und Aufstände prägten das politische Klima am Anfang der zwanziger Jahre in Deutschland (Kapp-Putsch, Ruhraufstand). Der Begriff „Goldene Zwanziger Jahre“ entstand mit dem Wirtschaftsaufschwung und bezeichnet die Blütezeit der deutschen Kunst, Kultur und Wissenschaft.
Mitte der 1950er Jahre – Hess hatte sich inzwischen zum Ingenieur weitergebildet – zog es ihn ins Ruhrgebiet, erst nach Essen, wo er etwa sechs Jahre bei der STEAG GmbH beschäftigt war und seine spätere Frau kennenlernte, bevor er zur VEBA Kraftwerke Ruhr AG wechselte. An der Brahmsstraße in Gladbeck baute er ein Haus. Hier wurde Sohn Andreas geboren, der heute als Professor im irischen Dublin tätig ist: „Ich bin schon zwei Mal dort gewesen“, berichtet Hess, der aber am liebsten von seinen elf Schiffsreisen erzählt, die ihn unter anderem nach Russland, in die Türkei und nach Spitzbergen geführt haben.
„Ich hätte nie für möglich gehalten, einmal so alt zu werden!“
„Ich hätte nie für möglich gehalten, einmal so alt zu werden“, resümiert der Hundertjährige – wie von sich selbst überrascht: „Meine Eltern und meine Schwester sind alle ziemlich früh gestorben.“ Viel Sport habe er in einer Betriebsgruppe der VEBA getrieben, „50 Jahre war ich in der ‚Montagsgruppe‘, aber nach und nach sind alle weggestorben“. Seit Corona sei auch daran nicht mehr zu denken, ebenso wenig wie an sein Geigenspiel im Quartett „Die kleine Hausmusik“, das regelmäßig in Seniorenheimen aufgetreten sei: „Als unser Gitarrist gestorben ist, haben wir aufgehört.“
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Rudolf Hess bezeichnet sich als „wunschlos glücklichen Menschen“ – schränkt etwas ein, „solange ich gesund bin und in meinen vier Wänden bleiben kann“. Sein Haus hat er mittlerweile für eine kleinere Wohnung eingetauscht. „Noch kann ich mich völlig selbstständig versorgen, putze, koche und sitze, wann immer es geht, auf dem Balkon mit Blick auf den Zweckeler Wald.“
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Seinen besonderen Geburtstag muss Rudolf Hess nicht allein feiern, fährt der Jubilar doch mit seinem Auto ins rund 50 Kilometer entfernte Hattingen, wo seine Lebensgefährtin Gerda (80) auf ihn wartet. Sie habe sich, im Gegensatz zu ihm selbst, „sehr gut mit dem Internet vertraut gemacht“. Und so werden beide von dort mit seinem Sohn in Dublin und dem Cousin in Ingolstadt via Skype sprechen können. „Am Nachmittag kommen wir dann zurück nach Gladbeck“, freut sich der lebensfrohe Jubilar auf einen ausgefüllten Ehrentag.