Gladbeck. Harald Kutsche erinnert sich an Heiligabend 1951, als er mit anderen Jungen im Berglehrlingsheim Zweckel ohne Familie am Christbaum saß.

Harald Kutsche kann sich immer noch ganz lebhaft an Weihnachten 1951 erinnern – zum ersten Mal nicht bei der Familie und weit weg von der Heimat. „Neun Jungs waren wir, saßen Heiligabend im Berglehrlingsheim an der Frentroper Straße zusammen und heulten bitterlich, weil wir nicht bei der Familie sein konnten“, erzählt der 86-jährige ehemalige Zweckeler Bergmann. Seine Augen werden immer noch leicht feucht, wenn er an diese Zeit denkt. „Liebevoll betreut hat uns damals Pastor Kirschnereit von St. Stephani. Er konnte aber Mutter und Vater, Schwester und Brüder nicht ersetzen“, erinnert sich Harald Kutsche mit Wehmut.

Mit dabei saßen damals im Lehrlingsheim, das an der Ecke Frentroper-/Uechtmannstraße stand, 14-jährige Jungs aus Bayern, die im Nachkriegsdeutschland aus dem hintersten Niederbayern ins Ruhrgebiet gekommen waren, um mit ihrem schmalen Lehrlingslohn „fast die ganze Familie daheim zu ernähren“. Sie hätten heimfahren können, erinnert sich Kutsche, aber das Fahrgeld sei für wichtigere Familienbedürfnisse gebraucht worden. „Das alles kann man nicht vergessen, wenn man es selbst mitgemacht hat.“

„Es war wunderbar, aber die Familie fehlte uns dennoch fürchterlich“

Harald Kutsche (l.) 1953 als Hauer auf Zeche Zweckel 1953. Er war 1950 aus der DDR geflohen und nach Gladbeck gekommen.
Harald Kutsche (l.) 1953 als Hauer auf Zeche Zweckel 1953. Er war 1950 aus der DDR geflohen und nach Gladbeck gekommen. © WAZ FotoPool | Dirk Bauer

Also saßen sie an jenem Heiligabend im Lehrlingsheim, warteten, was passierte. Pastor Kirschnereit habe schließlich Klavier gespielt, Weihnachtslieder wurden gesungen. „Es gab auch einen Christbaum, Felicitas Dahlmann, die gute Seele im Heim, hatte dafür gesorgt, dass wir uns wohlfühlten.“ Gemeinsam wurde auch etwas gegessen. Kutsche: „Es war wunderbar, aber die Familie fehlte uns dennoch fürchterlich.“

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Harald Kutsche war mit seinen damals 18 Jahren der Älteste in der Runde und wohnte schon gar nicht mehr in dem Lehrlingsheim, sondern war bei „Kost und Logis“ privat in Feldhausen untergekommen. „Aber ich wollte Heiligabend nicht allein sein, und so war ich froh, dass ich für den Abend ins Heim kommen durfte.“

Harald Kutsche war als 17-Jähriger aus der DDR geflohen und kam ins Revier

Harald Kutsche im Bergmannskittel auf der Bergschule 1954. Ab 1958 arbeitete er als Steiger. Nach dem Aus der Zeche Zweckel 1961 legte er auf Scholven an, Ab 1963 war er schließlich auf Blumenthal in Recklinghausen.
Harald Kutsche im Bergmannskittel auf der Bergschule 1954. Ab 1958 arbeitete er als Steiger. Nach dem Aus der Zeche Zweckel 1961 legte er auf Scholven an, Ab 1963 war er schließlich auf Blumenthal in Recklinghausen. © WAZ FotoPool | Dirk Bauer

Der gebürtige Niederschlesier war mehr als ein Jahr zuvor als 17-Jähriger aus der DDR, aus Thüringen, geflohen – „mit dem Segen der Eltern“. In der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone sahen er und seine Eltern keine Zukunft für ihn, „und der Bergbau in Westdeutschland suchte Arbeitskräfte“. Allein sei er damals über die noch grüne Grenze geflohen, kam in ein Auffanglager bei Delmenhorst. Mit sechs weiteren Jungen wurde er per Bus ins Ruhrgebiet gebracht, „vier von uns stiegen in Gelsenkirchen aus, zwei andere und ich in Zweckel.“

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An das Datum erinnert er sich noch genau: 24. Oktober 1950. Er war in seiner neuen Heimat Zweckel angekommen – in der er noch heute lebt, gemeinsam mit seiner Frau Christa, einer Ur-Zweckelerin von der Söllerstraße, die er 1960 heiratete. Einquartiert wurde er bei seiner Ankunft zunächst im Berglehrlingsheim, wo er knapp ein Jahr blieb, „bis zu meinem 18. Geburtstag“. Und er begann eine Lehre auf der Zweckeler Zeche, die der Grundstein war für fast vier Jahrzehnte im Bergbau und eine berufliche Karriere, in der er es bis zum Steiger brachte.

1950 konnte der Berglehrling an Weihnachten noch nach Hause reisen

Erinnerungen: Hier hält Harald Kutsche ein Foto des Tanzkurses in den Händen, der Anfang der 50er  im Berglehrlingsheim stattfand.
Erinnerungen: Hier hält Harald Kutsche ein Foto des Tanzkurses in den Händen, der Anfang der 50er im Berglehrlingsheim stattfand. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Drei Monate nach seiner Ankunft konnte er Weihnachten 1950 noch nach Haus reisen – „es gab sechs Tage Heimurlaub“. Mit kleinen Geschenken im Koffer kehrte er „wie der große Onkel aus Amerika“ nach Thüringen zurück: Der Vater bekam eine kleine Kiste mit vier Zigarren der Marke „Erntekrone“, die Mutter ein paar Seidenstrümpfe, die jüngste Schwester Ringelsocken, der ältere Bruder Kaugummi. „Wir haben alle geheult wie die Schlosshunde.“

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Pünktlich musste er wieder zurück in Gladbeck sein. Mit dem Zug fuhr er zunächst bis Altenessen, von dort mit der Straßenbahn zum Horster Stern, „wo ich aber die letzte 23 nach Gladbeck verpasste“. Also ging es zu Fuß weiter – von Horst über Gladbeck-Mitte nach Zweckel. „Um zehn vor vier morgens war ich im Lehrlingsheim.“ Der Heimleiter habe ihn etwas länger im Bett liegen lassen, „aber um Punkt sechs begann trotzdem die Schicht“, erinnert sich Kutsche.

1951 waren die Grenzen dicht und er konnte nicht mehr nach Hause

Ein Jahr später – Weihnachten 1951 – konnte er nicht mehr nach Hause fahren. „Die Grenzkontrollen zwischen der DDR und der Bundesrepublik waren verschärft worden, aus Vorsicht hatte ich auf die Reise verzichtet.“ Und so saß er bei Kerzenschein und der Klaviermusik des Pastors wie ein großer Bruder bei den jungen Berglehrlingen aus Bayern – tröstete sei ein wenig, hatte aber selbst große Sehnsucht nach der Familie, Tränen flossen. „Da wird auch der Stärkste schwach.“

Neue Heimat Zweckel

Auch sechs Jahre nach Kriegsende herrschten in weiten Teilen des Landes Not und Elend, von überall her waren Jungen ins Ruhrgebiet gekommen, um den Familien daheim zu helfen.

Der Zufall führte Harald Kutsche nach Gladbeck, wo er in Zweckel eine neue Heimat fand. Erst drei Jahre nach dem Weihnachtsfest im Berglehrlingsheim konnte er noch einmal zu seinen Eltern nach Thüringen fahren, später konnte die Familie nach Westdeutschland ausreisen.