Gladbeck. Peter Jarosch säubert regelmäßig ehrenamtlich 97 Stolpersteine in Gladbeck. Der 63-Jährige mahnt, aus der Geschichte zu lernen.

Die Dame am Steuer bremst ihren Wagen, lässt die Fensterscheibe runter. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Kann ich Ihnen helfen?“ Ob er gestürzt sei, will die aufmerksame Frau wissen. Nein, alles in Ordnung. Peter Jarosch kennt solche Nachfragen, wenn er seinem – ehrenamtlichen – Job nachgeht. Der 63-Jährige poliert regelmäßig die insgesamt 97 so genannten Stolpersteine in Gladbeck.

Wie die vier Exemplare, die vor der WAZ-Redaktion verlegt sind. An der heutigen Adresse Horster Straße 10 lebte einst die Familie Cahn. Hugo, der anno 1900 geboren wurde, und Werner, Jahrgang 1903, überlebten mit Hilfe den Terror des Nationalsozialismus’, ist dort auf Messingplaketten zu lesen. Aber hier wohnte auch Rosalia Cahn-Bieker. Sie wurde 1876 geboren, flüchtete nach Holland, wurde interniert, deportiert und ermordet. Auch das Todesdatum ist bekannt: der 26. März 1943. Ebenso das von Günther Cahn. Er lebte von 1910 bis 1943 – ermordet in Auschwitz.

Vor dem Sitz der Gladbecker WAZ-Redaktion, Horster Straße 10, erinnern Stolpersteine an Mitglieder der Familie Cahn, die während des Nationalsozialismus’ aus Deutschland flüchteten oder ermordet wurden. Foto: Lutz von Staegmann / FUNKE Foto Services
Vor dem Sitz der Gladbecker WAZ-Redaktion, Horster Straße 10, erinnern Stolpersteine an Mitglieder der Familie Cahn, die während des Nationalsozialismus’ aus Deutschland flüchteten oder ermordet wurden. Foto: Lutz von Staegmann / FUNKE Foto Services © Funke Foto Services | Lutz von Staegmann

Der Gladbecker Jarosch arbeitet mit Putzlappen und Spezialpaste – „Die erste Tube hat mir der Initiator Gunter Demnig geschenkt!“ – dafür, dass diese Eckdaten stets gut leserlich sind. Er sagt: „Denn sonst wäre all die Arbeit, die wir in das Projekt gesteckt haben, dahin.“

Initiative des Bündnisses für Courage Gladbeck

Mit „wir“ meint der gelernte Möbel- und Bautischler all jene, die sich im lokalen „Bündnis für Courage“ gegen Rechtsextremismus und Faschismus engagieren. „Erstmal war es gar nicht so einfach, mit der Stadtverwaltung die Idee ,Stolpersteine’ in die Tat umzusetzen“, sagt Jarosch nachdenklich. Er erzählt: „Das Projekt war eigentlich nicht gewünscht. Der Einwand, es werde schon genug zum Gedenken getan, war ja auch berechtigt.“ Und doch konnten die Befürworter der Aktion Zweifler schließlich überzeugen. Darunter auch Judith Neuwald-Tasbach von der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, der auch Gladbecker angehören. Jarosch weiß: „Die Stolpersteine waren lange umstritten.“ Schließlich, so ein Einwand, wolle man nicht, dass auf den Namen der Opfer herumgetrampelt werde. Doch ein Argument gab für viele Skeptiker den Ausschlag: „Wir geben Wissen weiter an die jüngeren Generationen!“

„Solche Taten dürfen nie wieder passieren!“

Und genau das liegt dem Mann mit dem roten Stern an der Baskenmütze, der seit dem Jahr 1971 „sozialistisch organisiert ist“, am Herzen. Er sagt: „Ich habe das große Glück, dass ich nach dem Krieg geboren wurde. Ich habe es immer als meine Aufgabe angesehen, dass so etwas wie im Nationalsozialismus nie wieder passieren darf.“ Der Anspruch der couragierten Bündnis-Engagierten sei, den Opfern ihre Persönlichkeit wieder zu geben. „Wir wollen deutlich machen, dass die Gräueltaten nicht irgendwo passiert sind“, so der „Braucker Junge“, der seit 25 Jahren in Zweckel zu Hause ist, „die Opfer hätten unsere Nachbarn sein können.“

Jungen Menschen sollen historische Kenntnisse vermittelt werden

Künstler Gunter Demnig

Der Künstler Gunter Demnig wurde durch seine „Stolpersteine“ europaweit berühmt. Der 71-Jährige stellt die quadratischen Erinnerungen aus Stein und Metall nicht nur eigenhändig her, sondern verlegt sie auch.

Das Projekt startete im Jahre 1992. Mittlerweile erinnern fast 70.000 Stolpersteine europaweit an Opfer des Nationalsozialismus’. In 1265 deutschen Kommunen und 24 Staaten machen „Stolpersteine“ Menschen, die deportiert und ermordet wurden oder vor Nationalsozialisten flüchteten, unvergessen.

In Gladbeck erinnern 89 Stolpersteine an frühere Bewohner jüdischen Glaubens, so Peter Jarosch. Er betont: „Der Anspruch des Bündnisses für Courage ist, dass wir alle Opfergruppen erfassen.“ Drei Steine sind Kommunisten gewidmet, zwei Sozialdemokraten. „Sie waren alle im bewaffneten Widerstand“, erklärt Jarosch.

Ein weiteres Exemplar wurde für Bernhard Poether vor der Herz-Jesu-Kirche in Zweckel verlegt. Dort befand sich einst die Dienstwohnung des Kaplans, der sich für die polnische Minderheit im Ruhrgebiet stark machte. Der katholische Geistliche starb im Jahre 1942 an den Folgen von Unterernährung und Folter im Konzentrationslager Dachau.

Diese Erkenntnis, das Wissen um die Geschehnisse unter Hitler, soll jungen Menschen vermittelt werden. Deswegen werden sie in die Recherche eingebunden. Arbeitsgruppen an allen weiterführenden Schulen in Gladbeck beteiligen sich, das erste Mal ist bei der anstehenden Stolperstein-Verlegung im September auch die Freie Waldorfschule eingebunden. „Wir vom Bündnis übernehmen die Vorrecherche. Für die Stolperstein-Verlegung sind folgende Angaben Bedingung: der volle Name, die letzte Meldeadresse in Gladbeck, das Geburtsjahr und das Datum der Ausweisung, Flucht oder Ermordung.“ Die Schüler-Gruppen finden, soweit möglich, etwas über Beruf und Leben heraus. „Seitdem die so genannte Flüchtlingsproblematik ein Thema ist, versuchen wir, Parallelen aus der Geschichte zur Gegenwart zu ziehen“, unterstreicht Jarosch. Große Unterstützung erhalte das Bündnis vom Stadtarchiv Gladbeck. „Eine wichtige Quelle stellen für uns Anträge auf Wiedergutmachung dar“, so Jarosch, „da ist unsere Stadtarchivarin Katrin Bürgel sehr hellhörig.“

Hinter Zahlen und Fakten der Geschichte stehen Schicksale

Sein Anliegen: Es soll klar werden, dass hinter trockenen Zahlen der Geschichte Schicksale stehen – und zwar von Menschen, die in der Gladbecker Gesellschaft anerkannt und integriert waren. Ihre Erinnerungssteine verschmutzen zu lassen, würde für den 63-Jährigen eine Missachtung ihrer Person bedeuten. In einer dicken Mappe dokumentiert er, welche Steine er wann geputzt hat. Also ist es Ehrensache für Peter Jarosch, weiter seine Runden durch Gladbeck zu drehen: „Noch zwei, drei Jahre werden mein Fahrrad und ich wohl durchhalten.“ Und er, der ad hoc viel über das Leben der Opfer zu berichten weiß, will gerne all jene Fragen beantworten, die Passanten ihm zu dieser Aktion stellen. Er stellt fest: „Weit mehr als 90 Prozent sind sehr interessiert und bedanken sich auch für meinen Einsatz.“