Gladbeck. Aliyah Zur wurde mit offener Bauchdecke geboren. Vor einem Jahr bekam sie vier Organe transplantiert. Erste OP dieses Ausmaßes bei einem Kind.
Die Sorgenfresser Molly und Mika haben ihre Arbeit geleistet. „Sie dürfen sich jetzt ausruhen“, sagt Aliyah über die kleinen pinken Stofffiguren. Viele Zettelchen hat die 17-Jährige in den vergangenen Jahren geschrieben und sie den Sorgenfressern in den Mund gestopft. „Ich hoffe, dass die OP klappt“, stand auf dem letzten.
Die Operation, die der Gladbeckerin damals bevorstand, war nicht irgendeine. Vier neue Organe hat Aliyah Zur vor einem Jahr transplantiert bekommen. Magen, Darm, Leber, Bauchspeicheldrüse. „Aliyah ist das erste Kind in Deutschland, das vier Organe auf einmal bekommen hat“, erzählt ihre Mutter Jessica Zur. Am Donnerstag feiert die Familie den ersten Jahrestag der Transplantation.
Ein Mops ist Aliyahs Herzenswunsch
Aliyahs größter Wunsch ist ein eigener Hund. „Ein Mops soll es sein“, sagt die 17-Jährige. Über den Verein Herzenswünsche soll die Anschaffung des Hundes realisiert werden.
Ein Jahr muss sie sich etwa jedoch gedulden, bis ihr Traum in Erfüllung gehen kann. Denn da das Immunsystem der Jugendlichen durch die Transplantation extrem geschwächt ist, muss sie sich noch schützen. Auch größere Menschenmengen meidet sie wegen einer erhöhten Ansteckungsgefahr derzeit.
Offene Bauchdecke erst kurz vor der Geburt bemerkt
Die Gladbeckerin kam mit einer offenen Bauchdecke zur Welt. In der Schwangerschaft bemerkten Mediziner nicht, dass etwas nicht stimmte. Erst als Jessica Zur, damals 19 Jahre, vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin mit starken Wehen ins Krankenhaus kam, erkannten die Ärzte die offene Bauchdecke. Magen, Darm und Eierstöcke des Babys lagen im Fruchtwasser. Der Darm war beschädigt. „Nach drei Monaten durfte ich mein Kind das erste Mal in den Arm nehmen“, erinnert Jessica Zur sich.
Nach acht Monaten kam die junge Familie erstmals nach Hause. Es folgten unzählige Operationen, lange Krankenhausaufenthalte, Komplikationen wie Blutvergiftungen – ein Leben voller Sorgen. „Aliyah ist dem Tod oft von der Schippe gesprungen.“ Und auch die Mediziner betonten immer wieder: Dass Aliyah das alles überstanden hat, grenze an ein Wunder. Unglaublich viele Operationen musste das Mädchen in ihrem jungen Leben schon über sich ergehen lassen. „Bei dem 100. Eingriff haben wir aufgehört zu zählen“, sagt Jessica Zur, die noch einen Sohn hat, der beim Vater der beiden Kinder lebt. Jessica Zur ist voll und ganz mit der Begleitung ihrer Tochter ausgelastet.
Mit dem Helikopter ging es nach Tübingen in die Uniklinik
Hart gekämpft hat die 37-Jährige immer wieder. Dafür, dass ihre Tochter überhaupt auf die Empfängerliste für Organspenden kam. „Aliyahs Allgemeinzustand war so schlecht, dass die Ärzte sie nicht auf die Liste setzen wollten.“ Viereinhalb Jahre stand sie schließlich auf der Liste, bis sie eines Abends endlich die Nachrichte bekamen: ein Spender ist gefunden. Ein Kind. Ob sie die Eltern des Verstorbenen einmal kennenlernen möchten ist ungewiss. „Ich möchte der Familie nicht weh tun, schließlich haben sie ihr Kind verloren“, sagt Aliyah und blickt auf ihre langen Fingernägel.
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Mit einem Helikopter ging es schließlich nach Tübingen in die Uniklinik. „Erst sollte ich nicht mitfliegen dürfen, da kaum Platz in der Maschine war.“ Doch die Mutter setzte alles daran, ihre Tochter begleiten zu dürfen. „Ich war drauf und dran, die OP ansonsten abzublasen.“ Angst vor dem großen Eingriff hatte Jessica Zur ohnehin. „Die Überlebenschance lag bei unter 50 Prozent.“ Das wusste auch Aliyah. Sie aber wollte die Transplantation unbedingt. „Ich hatte keinen Bock mehr auf künstliche Ernährung und den künstlichen Darmausgang. Alles war immer wund.“ Rund zehn Stunden dauerte der Eingriff. Ein halbes Jahr lebten die beiden Gladbeckerinnen in Tübingen. Noch heute müssen sie in größeren Abständen immer mal wieder zur Kontrolle hin.
Von ihren Mitschülern wurde sie oft geärgert
Aliyah erinnert sich genau an die Zeiten vor der Transplantation. Zeiten, in denen sie nicht nur um ihr Leben bangen und schwere Schmerzen aushalten musste, sondern auch von Mitschülern aufgrund ihrer Erkrankung ausgegrenzt wurde. „Ich habe in jeder Pause geweint und versucht wegzuhören, wenn ich etwa geärgert wurde, weil ich aufgrund meiner Leber gelb und schon fast grün an Körper und Gesicht war“, erinnert sie sich. Oft suchte das Mädchen nach Ausreden, um nicht in die Schule zu müssen. Bis sie 2015 auf die Jordan-Mai-Schule wechselte. Dort hat sie inzwischen einige Freunde gefunden. Am liebsten unternimmt sie mit ihnen Shoppingtouren.
Drei Mal in der Woche geht die Jugendliche zur Schule. Die Ansteckungsgefahr ist für ihr Immunsystem noch zu groß. Wenn Aliyah unterwegs ist, muss sie einen Mundschutz tragen. „Ich hoffe, dass ich nach den Sommerferien jeden Tag zur Schule gehen kann.“ Oft genug hatte sie wegen langer Klinik-Aufenthalte den Unterricht verpasst. Erst mit 13 konnte sie lesen.
Die Jugendliche muss 13 Medikamente pro Tag nehmen
Einfach ist ihr Leben indes auch heute natürlich nicht. 13 Medikamente muss sie jeden Tag einnehmen. Ihr Leben lang. Die Jugendliche muss zudem 20 Stunden pro Tag einen Rucksack bei sich haben, aus dem sie über eine Dünndarm-Sonde mit hochdosierter Babynahrung versorgt wird. In ihre Nase führt ein dünner Schlauch. „Der transplantierte Darm nimmt nicht so viele Kalorien auf. Sie müsste das Doppelte essen, um ausreichend versorgt zu sein“, erzählt ihre Mutter.
Aliyah macht sich indes um ganz andere Dinge Sorgen. Ihre Haare. Vom langen Liegen im Krankenhaus-Bett waren die ganz verfilzt und mussten abgeschnitten werden. „Das war eine Katastrophe, meine Haare sind mein Heiligtum“, sagt die 17-Jährige. Ein richtiger Teenager eben.
Nach allem, was die Familie durchgemacht hat, ist sie nun voller Hoffnung. „Wir genießen jeden Tag und sind dankbar, dass alles so gut läuft“, sagt Jessica Zur. Und doch: Die Angst wird ein Leben lang bleiben. Die Angst davor, dass der Körper die Organe doch noch abstoßen kann. Bei Fieber – ein mögliches Anzeichen dafür – sind sie gleich in der Klinik.
Und dann sind da noch die Nieren des Mädchens. Aliyah trinkt zu wenig, bekommt nachts über eine Infusion Flüssigkeit. „Es könnte passieren, dass meine Tochter auch noch eine neue Niere bekommen muss.“ Jessica Zur hat sich schon erkundigt, überlegt, dann selbst das Organ zu spenden. Die Familie aber hofft, dass es nicht dazu kommen muss. Damit sich die kleinen Sorgenfresser auch tatsächlich ausruhen können.