Gelsenkirchen. . Inga Clever (20) hat ein Jahr lang über das Programm „Seitenwechsel“ des Bistums Essen in Bolivien gearbeitet. Viele neue Eindrücke und Erfahrungen sammelte sie dabei: In einem Kinderheim hat sie mit Jungen im Alter von sieben bis 18 Jahren gearbeitet, sie und ihre Geschichten kennen gelernt.

Ein Riesentrubel, der kleine Saal ist zum Bersten gefüllt. Vorzugsweise mit Kindern aller Altersklassen, die singen, tanzen und lachen. Die aufgedrehte Stimmung ist deutlich wahrnehmbar. So etwa fing es damals vor rund einem Jahr an. Denn mit diesem Fest begrüßten die Kinder zwei Neuankömmlinge.

Eine davon ist die Gelsenkirchenerin Inga Clever. Während es andere Schüler nach dem Abitur zumeist ins englischsprachige Ausland zieht – nach Australien, Amerika, Kanada oder Neuseeland – hat sich die nunmehr 20-Jährige für ein nicht ganz so typisches Auslandsziel entschieden. In Südamerika, Bolivien, Santa Cruz hat sie gelebt, hat dort ein Freiwilliges Soziales Jahr lang über das Programm „Seitenwechsel“ des Bistums Essen gearbeitet, hat viele Eindrücke gesammelt und Erfahrungen gemacht. Oder wie Inga es ausdrückt „eine Art zweite Pubertät durchlebt: Weil das Jahr Reaktionen in mir ausgelöst hat, die ich davor nur aus der Pubertät kannte“.

Bewegende Geschichten der Jungen

Seit nunmehr einem Monat ist Inga wieder Zuhause. Es sind die Jungen aus ihrem „hogar de niños“ (Kinderheim), an die sie sich noch täglich zurückerinnert. An ihre Gesichter, an ihre Geschichten. Die Jungen im Alter von sieben bis 18 Jahren hat sie in den zwölf Monaten kennen, lieben und verstehen gelernt. Mit ihnen hat sie Bastel-, Koch- und Geigenkurse gestaltet – so nämlich lauteten die Hauptaufgaben der Freiwilligen.

„Ein sehr intensives Jahr war das“, resümiert die Weltenbummlerin. Ein Jahr, das ihr ein Leuchten in die Augen zaubert, wenn sie von den positiven Ereignissen berichtet, das sie aber auch nachdenklich werden lässt, wenn sie von den Erlebnissen der Jungen erzählt.

Die Geschichten der Heimbewohner sind völlig unterschiedlich: Im Hogar leben Vollwaisen, (Klein-)Kriminelle oder auch sexuell misshandelte Jungen.

Manche Erlebnisse treiben Inga selbst beim Sich-Zurückerinnern noch ein Lächeln ins Gesicht. Die Momente „wenn man die ersten Erfolge mit den Kindern erlebt. Einige Jungs haben sich nach meinem Kochkurs dazu entschlossen, Gastronomie zu studieren. Das fand ich unglaublich schön“. Doch manche Ereignisse erwirken eben auch das Gegenteil. Das Schlimmste? „Wenn die Kinder abhauen.“ Weil man eben wisse, dass sie so auf die schiefe Bahn geraten, erklärt Inga. Ein Beispiel: Ihr „Liebling“ unter den Jungen, 14 Jahre alt. Zu ihm hatte sie einen sehr engen Kontakt aufgebaut. Kurz vor Ingas Abflug hat er das Hogar verlassen, ist zurück in die Drogenszene gerutscht, hat seine 13-jährige Freundin geschwängert. „Ich habe Bilder auf Facebook gesehen, das war schrecklich“, sagt Inga dazu lediglich. Und ja, das tue auch von Deutschland aus noch weh.

Ein anderer Blick auf das Leben

Und abseits der Arbeit mit den Kindern? Auch da sei viel passiert. Gemeinsam mit drei weiteren Freiwilligen hat sie in einer Wohngemeinschaft im Hogar gelebt. Heimweh habe sie nicht gehabt und auch eher selten Kontakt zur Familie daheim. „So etwa einmal im Monat über Skype“, schätzt sie. Aber: „Es waren Momente, die ich vermisst habe. So etwas wie unser traditionelles Weihnachten. Ein Sonntagnachmittag mit der Familie.“ Sie überlegt. „Und ich habe zu schätzen gelernt, dass es hier in Deutschland immer warm in den Wohnungen ist. Wie schön es ist, seine Sachen in einen Schrank räumen zu können.“ Denn auch wenn es in Bolivien meist ziemlich warm ist, „gibt es da immer so einige Tage im Winter, an denen man sich fünf Jacken übereinander anziehen muss und es trotzdem nicht warm wird“.

Vielfalt an Tradition und Kultur

Inga spricht nun fließend Spanisch und das, obwohl sie nur mit Grundkenntnissen nach Bolivien gereist und „eigentlich kein Sprachtalent“ sei. Die Sprache möchte sie weiter vertiefen, denn „ich habe mich auch deshalb für Bolivien entschieden, weil dort eben Spanisch gesprochen wird. Und weil das weiter verbreitet ist, als etwa Portugiesisch.“ Weitere Gründe für die Wahl des Hogars: Bolivien sei so bunt und ursprünglich. „Die Vielfalt an Tradition und Kultur, die hat mich einfach gereizt.“ Diese hat sie auf ihren Landesreisen erkundet, ebenso wie die Nachbarländer Chile und Argentinien.

Die Erfahrungen werden Inga auch weiterhin von Nutzen sein. Denn: Die 20-Jährige studiert von Oktober an „Internationale Soziale Arbeit“ an der Ev. Hochschule Ludwigsburg in Baden-Württemberg. Dann sind auch zwei Semester im Ausland vorgesehen. Nach Indien würde Inga gerne. „Aber Indonesien, Vietnam oder Nepal fände ich auch spannend.“ Sie lacht. Weltenbummlerin eben.