Gelsenkirchen. . Das Jahr 5773 beginnt für die jüdische Gemeinde festlich mit Gebet und nach festem Ritus. In der Synagoge erklingt der Schofar, Neujahr zieht es die Gläubigen ans Wasser. Am 17. September beginnen die Feiertage, am 26. September ist Jom Kippur und am 1. Oktober das Laubhüttenfest.
Zwei Tage Neujahrsfest zum Wochenanfang, keine zwei Wochen später Jom Kippur, der Versöhnungstag, dann Anfang Oktober Sukkot, das Laubhüttenfest – für die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen beginnt die hohe Zeit der Feiertage: Mit dem Jahreswechsel 5773 kommt eine Zeit der Besinnung, der Einkehr, der Dankbarkeit. Eine Zeit, in der der Mensch auch Rechenschaft über sein Tun ablegt. „Das Buch des Lebens wird neu aufgeschlagen“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Für die Vorsitzende der traditionell orthodoxen Gemeinde werden die Tage lang. „Unsere Feste fangen an, wenn die Sterne zu sehen sind.“
Die nächsten Wochen sind auch eine Zeit der Gemeinschaft. „Judentum“, sagt Neuwald-Tasbach, „ist keine Individualreligion. Sie lebt vom Miteinander. Man teilt seine Gefühle und Emotionen.“ Und man teilt Rituale und Symbole. Der Schofar, diese besondere Halljahrposaune, wird beispielsweise zum Morgengottesdienst beim Neujahrsfest am nächsten Dienstag erklingen. Die Gemeinde hat ein ungewöhnliches gedrehtes Antilopenhorn, das Rabbiner Chaim Kornblum anstimmen wird. Das geschieht zur feierlichen Anerkennung Gottes als König, Beschützer und Richter. Der tiefe Ton wird die Synagoge füllen, gleichsam als Wecksignal – er soll auch aus einer gedankenlosen Lebensweise aufrütteln. Es ist das einzige Instrument, das im Gottesdienst zum Einsatz kommt. „Wir singen nur“, sagt Judith Neuwald-Tasbach.
Der tiefe Ton füllt den Raum
Überall, wo Jüdische Feiertage gefeiert werden, geschieht das nach festem Ritus. Eine schöne, verbindende und auch beruhigende Vorstellung ist es für Neuwald-Tasbach, wenn „auf aller Welt zur gleichen Zeit alle Juden das Gleiche tun“. Dazu gehört auch, dass sie am Neujahrstag nach dem Gottesdienst ein Gewässer aufsuchen. „Dort wirft man seine Sünden symbolisch fort“, erklärt sie. In Gelsenkirchen dient dazu der Teich im Stadtgarten. In der Synagoge ist in dieser Zeit festliches Weiß die bestimmende Farbe – für Thora-Mäntel, für den Vorhang des Thora-Schreins und die Bima, die Decke auf dem Podium, das den Altar im heiligen Tempel symbolisiert.
Kunstvolle Stickereien zieren den Stoff: Zweig-Muster, Goldranken, siebenarmige Leuchter. „Israel“ steht in Hebräisch auf dem Vorhang. Weniger ein Verweis auf den Staat als auf das Volk Israel, das sich hier versammelt. Über 400 Mitglieder hat die Gemeinde, an hohen Festtagen kommen gut 100 in die Synagoge. Der Zuzug aus ehemaligen Sowjetrepubliken hat das jüdische Leben in der Stadt verändert und bereichert. Nicht nur sprachlich. Die osteuropäischen Juden konnten vielfach ihren Glauben nicht leben. Mit manchen Traditionen sind sie nicht verbunden. „Die Eltern“, sagt die Vorsitzende, „lernen jetzt von ihren Kindern.“
613 Ge- und Verbote für orthodoxe Juden
Neujahr, ein beweglicher Feiertag, „ist dieses Jahr ganz früh“, sagt die Vorsitzende. Rosch ha-Schana ist eine stille Zeit. „Das Fest ist stark mit dem Gebet verbunden. Man böllert nicht, man feiert nicht laut.“ Schon als Kind war ihr die besondere Bedeutung bewusst. „Aber ich glaube, dass die Shoa-Überlebenden diesen Tag besonders erlebt haben. Für sie war er doppelt feierlich.“
Für Orthodoxe gilt es 613 Ge- und Verbote einzuhalten. „Judentum ist schon eine Religion, die viel vom Menschen fordert“, sagt die Vorsitzende. „Wir leben es hier im Haus, hier ist alles streng. Was die Menschen zu Hause tun, ist ihre Sache. Wir dürfen nur erklären, nicht missionieren, niemandem etwas aufzwingen“, sagt Neuwald-Tasbach. Dass ihr dabei eine besondere Vorbildrolle zufällt, ist ihr bewusst. „Ich bin ja eine Weltliche. Aber man erwartet von einer Vorsitzenden, dass sie kompetent ist. Ich bin nicht perfekt. In keiner Weise. Aber ich bemühe mich.“
„Wir leben hier an einem guten Ort“
Judith Neuwald-Tasbach hat einen katholischen Kindergarten besucht, war auf einer evangelischen Grundschule. „Ich habe schon einen Rundumblick bekommen“, sagt die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Sie lebt mit den Traditionen ihrer Religion und den furchtbaren Belastungen der Geschichte. Juden, glaubt sie, seien sich „immer sehr der Vergangenheit bewusst.“ Für Deutsche jüdischen Glaubens ist sie mit millionenfachem Tod verbunden.
Jüdisches Leben hat sich wieder entwickelt im Land der Täter. Donnerstag wurden vier in Deutschland ausgebildete Rabbiner in Köln ordiniert. „Es ist die dritte Ordination nach dem Krieg“, sagt Neuwald-Tasbach. „Das ist ein großes Ereignis auf dem Weg zur Normalität. Dass die noch weit entfernt ist, erlebt sie auch in Gelsenkirchen. Beleidigungen haben zugenommen. „Es kann nicht sein, dass Juden nicht mehr mit dem Käppchen auf dem Kopf auf die Straße gehen können. Man darf andere nicht verachten, weil sie ein anderes Weltbild haben, anders leben, anders beten“, appelliert sie. „Man muss Kindern klar machen, dass wir hier an einem guten Ort leben. Wenn Zusammenleben hier nicht klappt, wird es nirgendwo klappen.“