Gelsenkirchen. Wir sind sehr stolz auf unsere Mädchen“, sagt der Pädagoge Jorst Kasten. „Unsere Mädchen“, das sind Michelle und Melina. Die beiden leben schon seit längerem in der Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung St. Josef in der Altstadt.

Seit November vergangenen Jahres wohnen sie zusammen in einer Trainingswohnung im Haus St. Elisabeth. Trainingswohnen – was das bedeutet? „Die Jugendlichen praktizieren das ,Leben an der langen Leine’“, erklärt Jorst Kasten. Das heißt, sie müssen Verantwortung für sich selbst übernehmen.

Dazu gehört die Organisation alltäglicher Dinge. Sie Jugendlichen werden nicht geweckt, sie müssen selbst dafür sorgen, dass sie pünktlich aufstehen und rechtzeitig in der Schule sind. Sie müssen sich darum kümmern, dass die Wäsche gewaschen und die Wohnung aufgeräumt und sauber ist.

„Und wenn der Kühlschrank leer ist, müssen sie einkaufen und selbst entscheiden, was und wie viel“, erklärt Jorst Kasten. Auch das Finanzielle müssen die Jugendlichen selbst regeln.

Organisation des Alltags

Zweimal pro Woche sind die Pädagogen Jorst Kasten, Melanie Werdin, Astrid Iding und Anja Wetterkamp bei den jungen Leuten in den Trainingswohnungen zu Besuch – und das unangemeldet. Vertrauen ist die Grundlage für diesen ersten Schritt in die Selbstständigkeit.

Ende der 1990er Jahre begann das Erzieherteam um Leiterin Anja Gresch, das Projekt Trainingswohnen weiter zu entwickeln. Der damals neue Mitarbeiter Detlef Krautkrämer hatte die Idee aus Berlin mit nach Gelsenkirchen gebracht: „Unsere Jugendlichen müssen sich frühzeitig ausprobieren. Wie sollen sie später mit der gewonnenen neuen Freiheit umgehen können, wenn sie es nicht geübt haben?“

Gutes Verhältnis zu den Nachbarn

Viele Pädagogen hatten anfangs Bedenken. So bestand zum Beispiel die Sorge, dass das Geld ohne strenge Kontrolle schon nach einer Woche ausgegeben ist. Bei Michelle und Melina klappt aber alles sehr gut. Vieles machen sie gemeinsam, trotzdem hat jede auch ihr eigenes Reich in der kleinen Zwei-Raum-Wohnung. Und die Mädchen haben ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn, den älteren Menschen aus dem Haus St. Elisabeth.

„Gehhilfen“ für junge Menschen

„Wir haben einen guten Draht zueinander“, versichert Michelle. Und wenn es doch einmal Schwierigkeiten gibt, stehen ihnen die vertrauten Erzieher aus dem St. Josef-Haus zur Seite. Im Oktober, wenn Melina 18 Jahre alt wird, wird sie in ihre erste „echte“ eigene Wohnung ziehen. Dafür hat sie eine gute Basis erhalten. Jorst Kasten betont: „Bildlich gesprochen sind wir mit unseren Angeboten die Gehhilfen für die Kinder und Jugendlichen auf dem Weg in das eigene Leben. Doch gehen müssen sie selbst.“

Zuhause auf Zeit für 96 Kinder und Jugendliche

Das Kinderheim St. Josef wurde am 30. Juni 1887 als Waisenhaus eingesegnet. Seitdem hat sich vieles verändert - längst sind es keine Waisenkinder mehr, die dort eine Lebensperspektive suchen. Sie kommen hauptsächlich aus sozial schwachen Verhältnissen und aus Familien, die ihre Kinder nicht ausreichend betreuen und erziehen können. Zurzeit erhalten 96 Kinder und Jugendliche in der Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung ein Zuhause auf Zeit. In unterschiedlichen Gruppen bereiten sich die Jugendlichen auf das Zusammenleben mit einer neuen Familie, auf die Rückkehr nach Hause oder ein selbstständiges Leben vor. Dabei stehen ihnen Pädagogen zur Seite.

Die Mitarbeiter des St. Josef-Hauses kooperieren eng mit Beratungsstellen, Jugendämtern, Kinder- und Jugendpsychiatrien, Kinderkliniken, Schulen und Kindergärten, berufsfördernden Einrichtungen und Ausbildungsstätten sowie der Pfarrgemeinde St. Augustinus und dem Förderverein.

Zu der Grundidee der St. Josef- Einrichtung gehört unter anderem das Projekt „Trainingswohnen“. Derzeit gibt es Trainingswohnungen in der Kirchstraße, in der Ebertstraße und im Haus St. Elisabeth an der Cranger Straße. Die Jugendlichen können sich freiwillig dazu entscheiden, in eine Trainingswohnung zu ziehen, entweder allein oder zu zweit.