Gelsenkirchen. "Frauen denken anders", sagt Marit Rullmann. Die Philosophin hat ein Buch über ihre Kolleginnen geschrieben - und kritisiert etablierte Kreise: "Gerade die von Frauen errungenen Erfolge rufen neue Angriffe gegen sie hervor." Das Dilemma der Weiblichkeit.

Hildegard von Bingen, Rosa Luxemburg, Hannah Arendt, Simone de Beauvoir: Marit Rullmann ist in guter Gesellschaft, so viel steht mal fest. Aber: Wäre sie ein Mann, dann könnte die Aufzählung berühmter Berufskollegen diesen gesamten Artikel füllen. So umfasst sie übersichtliche vier Namen. Wer kennt schon weibliche Philosophen, sprich Philosophinnen? Antwort: Marit Rullmann.

So gut, dass die Humanwissenschaftlerin den Liebhaberinnen der Weisheit - denn nichts anderes heißt ja Philo-Sophin - mehrere Bücher gewidmet hat. Und, ja, sie selbst ist auch eine von ihnen. „Philosophinnen von der Antike bis zur Gegenwart” lautet einer der Titel der inzwischen etablierten Autorin, „Frauen denken anders” ein anderer.

Das Dilemma der Weiblichkeit

Und damit ist auch schon gesagt, was in Rullmanns Augen das Dilemma der holden Weiblichkeit in dieser ältesten aller Wissenschaften ist. „Frauen denken seit jeher mehr alltagsorientiert.” Weniger abgehobene, weltfremde Systeme spielen in den Entwürfen von Bingen bis Beauvoir eine Rolle, als mehr handlungsbezogene, dem Leben zugewandte Ideen. „Man muss sehen, dass die Philosophie in der Antike eher eine weibliche Wissenschaft war”, betont Rullmann. Die monotheistischen Religionen - also die, die an einen (männlichen) Gott glauben - brachten schließlich die Wende.

Und hier sind wir schon tief in der Diskussion, die sich Rullmann viel intensiver und auf breiter Ebene wünscht. Die Gelsenkirchenerin, die selbst über den zweiten Bildungsweg zur Philosophie kam, ist nämlich wie ihre weiblichen Vorbilder in ihren Aktivitäten durchaus alltagszugewandt. Im Schreiben: „Ich verstehe nicht, warum in deutschen wissenschaftlichen Zirkeln etwas immer erst dann gut ist, wenn es so kompliziert formuliert ist, dass es nur noch Fachidioten verstehen”, kritisiert sie das Establishment. Vielleicht, weil die meisten Hochschulprofessuren immer noch von Männern besetzt sind? „Das spielt sicher eine Rolle. Männer denken nicht nur anders, sie haben in Fragen von Macht und Autorität auch ihre eigenen Paradigmen, die sie heftig verteidigen.” Herrschaftswissen, das Mann eben nicht gerne teilt. „Und unterhalb von 30 Prozent bewegt sich in einem System auch nichts”, analysiert Rullmann. Die Herren, sie sitzen also fest im Sattel. Noch.

Gar nicht abgehoben

Denn gar nicht abgehoben und darum durchaus erfolgreich sind Rullmann Bemühungen, weibliche Philosophie im eher geisteswissenschaftsscheuen Ruhrgebiet im besten sokratischen Sinne ins Gespräch zu bringen. In philosophischen Cafés etwa in Gelsenkirchen, Waltrop und Castrop-Rauxel trifft sie regelmäßig Denkfreudige, mit denen sie Themen wie Glück, Tod, Liebe, Erfolg zerlegt, wieder zusammensetzt, vergleicht, verarbeitet. „Das ist ja das, was die Philosophie ausmacht. Der Diskurs über Phänomene, die jeden unmittelbar betreffen.” Diese Zirkel sind inzwischen konsequent besuchte Nischenangebote, „ein bisschen wie intellektuelle Oase´n”, beschreibt es Rullmann.

Dem Leben zugewandt

In einem Vortrag, den sie anlässlich ihrer jüngsten Veröffentlichung vor einem Fachpublikum hielt, formulierte sie folgende These: „Weibliche Philosophen sind eher dem Leben zugewandt, männliche eher dem Tod.” Vom Publikum erntete sie dafür unbequemes Raunen. Rullmann lacht, wenn sie diese Anekdote erzählt. „Ich denke, da geht es mir genauso wie den meisten meiner Vorgängerinnen.” Frau ist eben immer noch Außenseiterin, auch in der Philosophie. Und dabei in guter Gesellschaft.