Gelsenkirchen. Welche Resonanz der Aufruf hatte, Opfer sollten sich bei der evangelischen Kirche Gelsenkirchen melden. Wieso Prävention schwierig sei.

2225 Opfer und 1295 Täter: Als die bundesweite Forum-Studie zum sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche Ende Januar diese Zahlen veröffentlichte, ging sie von einer „Spitze des Eisbergs“ aus. Ähnliches erwartete der Evangelische Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid: Es werde wohl mehr als die „sechs bis acht (bekannten) Verdachtsfälle“ aus den 1980er und 1990er Jahren geben, hieß es, verbunden mit dem Aufruf, weitere Opfer mögen sich beim Kirchenkreis melden, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. Nun zieht Superintendent Heiner Montanus eine erste Zwischenbilanz – und korrigiert die Zahl überraschend.

Nicht ganz zwei Monate nach dem Aufruf seien dem Kirchenkreis keine weiteren Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt gemeldet worden, teilt Montanus im Gespräch mit der Redaktion mit. Dennoch zieht er nicht den Schluss, dass es vor Ort nicht mehr Übergriffe gegeben habe: „Das würde mich doch sehr wundern. Wahrscheinlicher ist: Die Hürden, mit Missbrauch an die Öffentlichkeit zu gehen, sind für Betroffene nach wie vor sehr hoch.“

Wie Opfer aus Gelsenkirchen dem Automatismus einer Meldung bei der Staatsanwaltschaft entgehen können

Opfer sexualisierter Gewalt „denken leider immer noch oft, sie seien selbst schuld an der Tat; sie wollen daher nicht in der Öffentlichkeit als vermeintlich Schuldige dastehen.“ Andere hätten durch den Missbrauch jegliches Vertrauen in kirchliche Institutionen verloren. „Womöglich gehen einige auch davon aus, dass die Kirche ihre Mitarbeitenden schützt, die Taten kleinredet und eine Ahndung im Sande verlaufen lässt.“ Montanus stellt klar: „Ich kann diese Sorge zwar verstehen. Aber es werden keine Fälle unter den Tisch gekehrt. Wir melden jeden Verdacht sofort der Staatsanwaltschaft.“

Dass genau dieser Schritt für einige Opfer das Problem sein könnte, vermutet er allerdings auch. „Nicht jeder Betroffene möchte, dass die Tat öffentlich wird. Es gilt aber nun mal die Meldepflicht, sobald jemand Kenntnis von Missbrauch erlangt. Eine strafrechtliche Verfolgung ist eben nicht ins Belieben der Kirche gestellt.“

Wer diesem Automatismus entgehen möchte, könne sich einem Pfarrer im Seelsorge-Gespräch anvertrauen. „Dann unterliegt der Inhalt der Schweigepflicht, von der die Geistlichen nur durch den Betroffenen selbst entbunden werden können.“ Montanus selbst steht für solche Gespräche ausdrücklich offen, macht dabei aber auch ein Problem deutlich: „Das Schweigen, das im Interesse des Täters liegt, wird fortgesetzt.“

Gelsenkirchener Superintendent korrigiert Fallzahlen nach unten

Obwohl sich also keine weiteren Betroffenen gemeldet haben: Bei den „sechs bis acht Verdachtsfällen“, die Kirchenkreis-Sprecherin Jutta Pfeiffer Ende Februar auf Nachfrage der Redaktion genannt und die die Landeskirche Bielefeld „ungefähr“ bestätigt hatte, bleibt es dennoch nicht. Montanus korrigiert die Zahl nach unten: „Wir können tatsächlich nur drei Verdachtsfälle nennen“, die sich „etwa“ in den 1980er und 1990er Jahren ereignet hätten. Wie die Diskrepanz zustande kommt, lasse sich nun nicht mehr aufklären.

Auch die Landeskirche Bielefeld kann auf erneute Nachfrage keine konkretere Zahl nennen. Sprecher Wolfram Scharenberg begründet dies mit der „erheblichen Veränderung“ von Form der Meldungen und Bearbeitung über die Jahrzehnte, „zudem ist häufig gar nicht so genau zu fassen, was wirklich ein ,Fall‘ ist.“ Schwierig sei auch die Zuordnung, weil Beschuldigte und Betroffene teils in andere Bundesländer und damit auch Landeskirchen umgezogen seien.

Bei den bekannten drei Verdachtsfällen handele es sich um eine große Bandbreite - vom Verdacht auf Kindesmissbrauch über sexuelle Übergriffe unter Minderjährigen bis hin zu „Anzüglichkeiten“. Dabei berücksichtigt sei zum einen der Fall des mittlerweile verstorbenen Pfarrers Harry Heinz Riemer, der 1986 bis 1991 in Schalke tätig war und 1993 eine Pfarrstelle in Sachsen übernahm. Dort wurde er 2002 wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen in neun Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, ausgesetzt auf Bewährung, sowie einer Geldstrafe verurteilt.

Welche Fälle dem Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid bekannt sind

Machte seinen Vorwurf, ein Gelsenkirchener Pfarrer habe ihn in als Konfirmanden in den 1980er Jahren missbraucht, Anfang 2024 öffentlich:  Markus Klaaßen aus Krefeld.
Machte seinen Vorwurf, ein Gelsenkirchener Pfarrer habe ihn in als Konfirmanden in den 1980er Jahren missbraucht, Anfang 2024 öffentlich: Markus Klaaßen aus Krefeld. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Ebenfalls mitgezählt werde der Fall eines Gelsenkirchener Pfarrers, der in den 1980er Jahren seinen Konfirmanden Markus Klaaßen nach dessen Angaben mehrfach betäubt und dann schwer missbraucht haben soll. Wie berichtet, war der Tatvorwurf 2019 – als Klaaßen sich erinnerte und an die Landeskirche Bielefeld wandte – verjährt.

Bei dem dritten Fall gehe es um die „unsittliche Annäherung“ eines Hauptamtlichen, die eine Person dem Superintendenten meldete. Das Vergehen sei disziplinarrechtlich „verfolgt und abgeschlossen“ worden, zu einer strafrechtlichen Verfolgung sei es nicht gekommen, weil die Zeugenaussagen nicht ausreichend belastbar gewesen seien. Mittlerweile sei die verdächtige Person verstorben.

Gelsenkirchener Superintendent kritisiert frühere Informationspolitik der Landeskirche Bielefeld

Den Namen Markus Klaaßen habe er erst aus der WAZ-Berichterstattung erfahren, so Montanus. Die Landeskirche Bielefeld habe ihn zwar 2019 telefonisch darüber informiert, dass es einen Verdacht mit Bezug zu Gelsenkirchen gebe. Um wen es dabei ging, wer als Opfer, wer als Tatverdächtiger genannt wurde: Darüber habe er trotz mehrmaliger Nachfragen nichts erfahren.

„Damals hieß es, ich solle eventuelle Anfragen dazu an die Landeskirche weiterleiten, allein diese sei dafür zuständig. Ich habe dann deutlich gemacht, dass es schwierig ist, (in Hinblick auf mögliche weitere Opfer, d. Red.) präventiv tätig zu werden, wenn ich nichts Näheres weiß. Zum Glück hat man dieses Verfahren 2021 geändert: Die Landeskirche hat zugesagt, uns künftig in solchen Fällen zu informieren.“

Gelsenkirchener Missbrauchsopfer Klaaßen kritisiert Unprofessionalität beim Umgang mit Opfern

Zu Kritik des Betroffenen Markus Klaaßen, die Mitarbeitenden der Landeskirche hätten bei seiner Anhörung 2019 in Bielefeld unprofessionell agiert, ihn förmlich an den Pranger gestellt und dadurch retraumatisiert, wollte sich Montanus nicht näher äußern. „Heute arbeiten dort speziell geschulte Sozialarbeiter, wer damals dort tätig war, weiß ich nicht.“

Auch den Vorwurf, die Kirche lasse die Opfer letztlich mit den Folgen des Missbrauchs alleine, wenn sie nur eine finanzielle Anerkennungsleistung für das erlittene Leid zahle, sich aber sonst nicht individuell – etwa um eine passende Therapie - kümmere, wollte der Superintendent für Gelsenkirchen und Wattenscheid nicht kommentieren.

Wieso Gelsenkirchens Superintendent kein Gespräch mit Missbrauchsopfer Klaaßen sucht

Ein Gespräch mit Klaaßen gesucht, nein, das habe er nicht, räumt Montanus auf Nachfrage ein. „Ich habe darüber nachgedacht, wusste aber nicht, was ich ihm hätte anbieten können.“ Er habe seine Zweifel, ob er als Superintendent für ein Seelsorge-Gespräch der richtige Ansprechpartner sei. Auch als Repräsentant der Dienstaufsicht über die Gemeinden, in denen der Tatverdächtige tätig war, hätte er Klaaßen jetzt wohl nicht helfen können.

Unter welcher seelischen Not Betroffene leiden, davon habe er sehr wohl einen Eindruck, nachdem sich ihm ein Freund überraschend vor vielen Jahren als Opfer offenbart habe. „Die Tat ist für sie tatsächlich nahezu täglich präsent. Während ich meinen Freund zur Begrüßung freundschaftlich umarme, läuft bei ihm ein ganz anderer Film ab.“

Wieso Missbrauchs-Prävention eine Herausforderung für den Alltag in der evangelischen Kirche ist

Seither bemühe er sich noch mehr, in Gesprächen herauszuhören, ob ihm jemand noch etwas mitteilen möchte, das nicht Hautthema der Unterhaltung ist. „Ich bin sensibler geworden, auf versteckte Signale zu achten.“

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Wichtig sei ihm aber auch die Prävention – im Alltag durchaus eine Herausforderung. Allgemeine Schutzauflagen wie ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis auch für Pfarrerinnen und Pfarrer, keine Fahrten im Privat-Pkw, keine Treffen in Privatwohnungen und Zurückhaltung bei Umarmungen und Berührungen: All das sei richtig, aber eben auch eine Gratwanderung. „Die Frage ist, wie Seelsorge funktionieren soll“, wenn Vertrauen missbraucht werden könnte und daher verdächtig sei.

Die Antwort, da ist Montanus sicher, könne etwa nicht der kalte frontale Konfirmanden-Unterricht von früher sein. Es sei klar: Das Thema sexualisierte Gewalt wird die (evangelische) Kirche noch lange begleiten. So oder so.

Anmerkung der Redaktion: Einige Tage nach dem Interview teilte Kirchenkreis-Sprecherin Jutta Peiffer mit, dass der Superintendent Markus Klaaßen per Brief um ein Gespräch gebeten habe.