Gelsenkirchen. Erst verdrängt, dann verjährt: Wie Markus Klaaßen mit der Erinnerung an Grauenhaftes ringt. Was er der evangelischen Kirche vorwirft.
Er gilt in der Kirche als Ort, an dem Gott in besonderer Weise gegenwärtig ist: der Altar. Markus Klaaßen (48) kann bei diesem Gedanken freilich nur fassungslos mit dem Kopf schütteln. Wo das Abendmahl gefeiert und der Segen zugesprochen wird, habe er Grauenhaftes erlebt: Ein Pfarrer habe ihn als Konfirmanden in einem Gelsenkirchener Gotteshaus erst betäubt und dann schwer missbraucht. Damit wäre er eines von (mindestens) 2225 Opfern sexualisierter Gewalt, die die gerade erschienene Forum-Studie auflistet. Deren Wissenschaftlern hat er seine Geschichte erzählt – und der WAZ Gelsenkirchen.
Was damals in den 1980ern passiert sei, für ihn aber nie vorbei sein wird: Daran habe er jahrzehntelang keinerlei Erinnerung gehabt, berichtet Klaaßen. „Meine Kindheit und Jugend waren ein weißer Fleck. Erst nach einem Zusammenbruch 2016 und einem zehnwöchigen Aufenthalt in einer Klinik 2018 wurde alles Stück für Stück hochgespült.“ Seither vergehe kein einziger Tag, an dem nicht Bilder, Gefühle und Gesprächsfetzen jener zwei Jahre auftauchten.
Gelsenkirchener Eltern schickten Jungen für Geld in Konfirmations-Unterricht
Klaaßen stammt aus schwierigen Verhältnissen, „aus der Gosse“, wie er selbst sagt. Mutter und Vater arbeitslos, alkohol- und zeitweise drogenabhängig, seien sie ständig auf der Suche nach Geldquellen gewesen. „Dabei hat meine Mutter auch immer wieder den evangelischen Pfarrer um finanzielle Unterstützung gebeten und sie auch bekommen.“ Offenbar im Gegenzug, so erklärt es sich Klaaßen heute, habe er am Konfirmanden-Unterricht teilnehmen müssen. „Sonst hatten wir doch mit Kirche und Gemeinde nichts zu tun!“
Weil er als Kind und Jugendlicher von seinen mittlerweile verstorbenen Eltern vernachlässigt worden und „eigentlich immer hungrig und durstig gewesen“ sei, habe er sich nicht nur in der Schule, sondern auch im Konfirmations-Unterricht schlecht konzentrieren können. „Ich hatte Probleme beim Auswendiglernen des Vater-Unser-Gebets und eines Psalms. Deshalb sollte ich nachsitzen oder allein mit dem Pfarrer in der Kirche das Abendmahl üben.“
Gelsenkirchener wird gequält von traumatischen Erinnerungen
Er habe sich damals „gefreut, etwas zu trinken zu bekommen“, erzählt Klaaßen betont sachlich. Dass der Geistliche ihm damit auch ein Betäubungsmittel verabreicht habe, sei ihm erst Jahrzehnte später klar geworden, als er in der Klinik in plötzlichen „Flashbacks“ von den Geschehnissen geradezu heimgesucht wurde – das Trauma in der Erinnerung also erneut durchleben musste. „Es gab Patienten, die mich im Aussehen oder mit ihrer Stimme an den Pfarrer erinnert haben. Dies muss der Anlass gewesen sein, dass plötzlich Stück für Stück alles hochkam.“
„Ich wusste auf einmal wieder, wie ich hinter dem Altar liegend aufwachte und Schmerzen am Po oder einen Würgereiz hatte. Mehrmals kam ich zu früh zu mir, als der Pfarrer noch nicht fertig war.“ Geradezu zynisch für ihn aus heutiger Sicht: Der Täter habe bei einer Vergewaltigung im Gotteshaus einen Talar getragen und das Vater Unser gebetet. Tatorte seien sowohl die Kirche als auch ein Raum im benachbarten Gemeindehaus gewesen.
Vater gewalttätig und oft in Haft, Mutter interessierte sich nicht für ihren Sohn
Sich seinen Eltern anzuvertrauen, sei keine Option gewesen. „Mein Vater war gewalttätig und öfter mal in Haft. Meiner Mutter war ich egal.“ Seine einzige Chance, mit dem Trauma umzugehen, sei die Verdrängung gewesen. Er „vergaß“ alles und lebte weiter.
Herausforderungen hatte er ohnehin genug: Mit 16 ging er freiwillig ins Heim, um dem familiären „Sumpf“ aus Armut, Gewalt und Drogen zu entkommen und absolvierte eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Schließlich stieg er in eine leitende Position bei einer Großhandelsfirma auf und fand sein privates Glück mit Ehefrau und Kind, bis er 2016 vermeintlich einen Burn-out bekam und sich beruflich neu sortierte.
Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder abonnieren Sie uns kostenlos auf Whatsapp und besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
Es sollte nicht reichen, um Tinnitus, Schlaflosigkeit und Gereiztheit in den Griff zu bekommen. Klaaßen ging 2018 für zehn Wochen in eine Privatklinik – und begann sich zu erinnern.
Über einen Anwalt konfrontierte er das Landeskirchenamt in Bielefeld im Mai 2019 mit dem Vorwurf und forderte die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen den pensionierten Theologen. Auch die Staatsanwaltschaft wurde informiert. Doch rund fünf Jahre später muss Klaaßen feststellen: „Es hat alles nichts gebracht. Der Pfarrer ist davongekommen.“
Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen war verjährt
Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen in den 1980er Jahren, er war schon 2019 längst verjährt. Und auch der Vorwurf des versuchten Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebs – schließlich habe der Mann unbekannte Betäubungsmittel eingesetzt – habe nicht nachgewiesen werden können, so die Staatsanwaltschaft im Februar 2020. Der Pfarrer wies nach Informationen der Redaktion alle Beschuldigungen pauschal zurück und machte ansonsten von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.
Was Klaaßen nach Jahren der ermüdenden Korrespondenz mit kirchlichen und staatlichen Behörden bleibt, ist das beklemmende Gefühl, dem Opfer-Status nicht wirklich entkommen zu sein. „Bei einer Anhörung mit Kirchenvertretern in Bielefeld saß ich dem Pfarrer und dessen Anwalt vier Stunden lang gegenüber. Ich musste auf alle Fragen antworten, egal, wie aggressiv oder unterstellend sie waren, durfte aber selbst keine stellen, auch mein Anwalt nicht.“
Evangelische Kirche blockt alle Anfragen zu Gelsenkirchener Fall ab
Auch das weitere Prozedere sei alles andere als transparent gewesen. Wie das Disziplinarverfahren der Landeskirche endete, ob das im Mai 2019 erlassene Verbot der öffentlichen Wortverkündigung, der Sakramentsverwaltung und weiterer Amtshandlungen aufgehoben: Klaaßen hat es nie erfahren. „Im juristischen Sinne gelte ich ja bloß als Zeuge. Ich habe keinerlei Rechte“, schnaubt er sarkastisch.
Auf Nachfragen der Redaktion wollen die Evangelische Landeskirche und der Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid die Vorwürfe gegenüber dem Pfarrer weder bestätigen noch dementieren. Ob dieser noch in Gelsenkirchen lebt; wie das Disziplinarverfahren ausging; ob sich andere Betroffene gemeldet haben, die ihn sexualisierter Gewalt beschuldigen: Zu all dem wolle man sich aus Daten- und Personenschutzgründen nicht äußern, heißt es. Deshalb war es auch für die Redaktion nicht möglich, den Mann mit den Vorwürfen zu konfrontieren.
„Der Pfarrer hat mir meinen Glauben an Gott genommen“
Dass Klaaßen nach einer „Plausibilitäts-Prüfung“ vom Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe 2019 und 2022 insgesamt eine untere fünfstellige Summe „in Anerkennung Ihres erlittenen Leids“ erhalten hat – teils als „symbolische und pauschale“, teils als „individuelle“ finanzielle Leistung –, bedeutet ihm so viel nicht. „Das Geld hilft etwas, die viel höheren Kosten für Anwalt und Therapie auszugleichen. Mit dem Rest müssen ich und meine Familie aber alleine klarkommen.“
Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder abonnieren Sie uns kostenlos auf Whatsapp und besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
„Der Rest“, das ist für ihn nicht nur die volle Erwerbsunfähigkeit. „Der Pfarrer hat mir meinen Glauben an Gott genommen, den kann mir niemand mehr zurückgeben.“ Es ist sein Vertrauen in andere, das nachhaltig gelitten hat. „Ich kann vielleicht nicht mehr mit anderen Menschen zusammenleben; ich finde keine Ruhe mehr.“
Vorwurf: Mit der Suche nach passender Traumatherapie völlig alleingelassen worden
Die Evangelische Amtskirche habe ihn insgesamt „nicht schlecht behandelt“, jedoch unprofessionell agiert, etwa bei der Anhörung. „Da war keiner im Umgang mit traumatisierenden Missbrauchs-Opfern geschult“, kritisiert er. Auch sei er mit der Suche nach einer passenden Traumatherapie völlig alleingelassen worden. Das müsse anders laufen, nicht nur bei ihm, sondern bei allen Opfern. „Wer selbst nicht genügend Kraft zum Recherchieren hat, ist verloren“, mahnt er „mehr lebenspraktische, individuelle Unterstützung“ an.
+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen? Dann können Sie hier unseren kostenlosen Newsletter abonnieren +++
Bis es irgendwann soweit ist, will er selbst Betroffenen helfen, zumal den Männern unter ihnen, denen es sehr oft besonders schwerfalle, über ihren sexuellen Missbrauch zu sprechen: Klaaßen hat seine Erfahrungen niedergeschrieben und unter dem Titel „(Über-)Leben“ bei Books on Demand (Norderstedt 2023) herausgebracht (ISBN: 9783758324789, Preis: 24,99 Euro).
Darin gibt er auch Literaturtipps sowie Hinweise zu Kliniken und nennt Telefonnummern, unter denen sich Betroffene im Akutfall melden können; darunter auch das „Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch“ (0800 22 55 530). Darüber hinaus hat er gemeinsam mit dem Pychologen und Psychotherapeuten Martin Braun auf der Homepage www.hilfe-duch-selbsthilfe.de schnelle Hilfsangebote für Opfer zusammengestellt.