Gelsenkirchen. Das sind die Verdachts-Meldungen im Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid. Wo sich Betroffene melden können und wer hilft.

2225 Opfer von sexualisierter Gewalt und 1295 mutmaßliche Täter: Als die deutschlandweite Forum-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche Ende Januar diese Zahlen veröffentlichte und als „Spitze des Eisbergs“ bezeichnete, war das Entsetzen groß. Das mediale Echo ist mittlerweile etwas abgeebbt, die Betroffenheit aber nicht, versichert der Evangelische Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid. Er bemühe sich ausdrücklich um die Aufarbeitung vor Ort, heißt es. Was das konkret bedeutet, wie viele und welche Verdachtsfälle bislang bekannt sind? Die Redaktion hat nachgefragt.

Wie Kirchenkreis-Sprecherin Jutta Pfeiffer auf Anfrage mitteilt, seien in den 80er und 90er Jahren „sechs bis acht Verdachtsfälle“ sexualisierter Gewalt in Gelsenkirchen und Wattenscheid den Vorschriften gemäß zur Westfälischen Landeskirche gemeldet worden. Ob und inwiefern es sich dabei tatsächlich um eine Form von Missbrauch gehandelt hat, sei aber „teils unklar“, weil Bielefeld als Sitz der Landeskirche die Superintendentur in der Emscherstadt darüber nicht immer informiert habe.

Landeskirche: Sehr unterschiedliche Vorkommnisse in Gelsenkirchen und Wattenscheid

Viel konkreter äußert sich freilich auch die Landeskirche nicht, aus Datenschutzgründen, wie es heißt: „Es handelt sich um sehr unterschiedlich gelagerte Vorkommnisse aus einem Zeitraum mehrerer Jahrzehnte (beginnend in den 1980er Jahren)“, bestätigt Sprecher Wolfram Scharenberg „ungefähr“ die Zahl der Meldungen aus Gelsenkirchen und Wattenscheid. Die Meldungen hätten sich auf den Verdacht des Kindesmissbrauchs über sexuelle Übergriffe unter Minderjährigen bis hin zu „Anzüglichkeiten“ gegenüber Mädchen und jungen Frauen bezogen, „also sexualisierte Gewalt im Sinne des heutigen Kirchengesetzes in Form von Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung“.

Wer die Opfer, wer die mutmaßlichen Täter sind, aus welchen Stadtteilen oder Gemeinden sie stammen, ob es sich um Pfarrpersonen, sonstige hauptamtliche Angestellte oder Ehrenamtliche handelt, dazu wollte er aus Datenschutzgründen nichts Näheres mitteilen.

Dieser prominente Fall aus Gelsenkirchen machte 2002 bundesweit Schlagzeilen

Nur so viel: „Beteiligte hatten in irgendeiner Weise Verbindung zu Gelsenkirchen-Wattenscheid, nicht immer sind dort aber die Vorkommnisse selbst verortet gewesen“, heißt es unter Verweis auf den Fall eines Gelsenkirchener Ex-Pfarrers, der 1986 bis 1991 in Schalke tätig war und 1993 eine Pfarrstelle in Schkeuditz in der Kirchenprovinz Sachsen übernahm. Das Amtsgericht Eilenburg bei Leipzig verurteilte ihn im November 2002 wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in neun Fällen zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine Geldstrafe von 6000 Euro. Angeklagt gewesen war er wegen Missbrauchs in 42 Fällen.

Der experimentierfreudige und eigensinnige Theologe war in Schalke wegen seiner „unkonventionellen Jugendarbeit“, wie er es nannte, ebenso beliebt wie berüchtigt gewesen. Verurteilt wurde er wegen sexualisierter Gewalt in Sachsen, wo er wie ein Guru eine sektenähnliche Gemeinschaft um sich geschart haben soll.

Ein privatrechtlich Beschäftigter des Kirchenkreises Gelsenkirchen wurde entlassen

Der Fall des verurteilten Gelsenkirchener Ex-Pfarrers ist der bislang prominenteste in der Emscherstadt, wenn auch nicht der einzige: „Auch weitere Fälle wurden zur Anzeige gebracht und/oder dienst/-bzw. arbeitsrechtlich verfolgt“, informiert Landeskirchen-Sprecher Scharenberg weiter. So sei es etwa in einem Fall zu einer Entlassung eines privatrechtlich beschäftigten Mitarbeiters gekommen.

Nicht immer führe eine Strafanzeige jedoch zu einer Verurteilung, etwa wenn aufgrund der Volljährigkeit eines oder einer Betroffenen keine Straftat erkannt wird. Auch könne es Konstellationen geben, bei denen keine Anzeige oder kein disziplinar- oder arbeitsrechtliches Verfahren erfolge, etwa wenn ein Verdacht erst aufkommt, nachdem die Beteiligten nicht mehr greifbar seien.

Gelsenkirchener Kirchenkreis fürchtet, dass weitere Fälle noch nicht öffentlich wurden

Heiner Montanus, Superintendent im Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid, steht für Gespräche von Betroffenen sexualisierter Gewalt zur Verfügung.
Heiner Montanus, Superintendent im Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid, steht für Gespräche von Betroffenen sexualisierter Gewalt zur Verfügung. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Dass der damalige Kirchenkreis Gelsenkirchen keine Rückmeldungen über den Fortgang der Untersuchungen aus Bielefeld erhalten habe, überrascht Sprecher Scharenberg. „Heute ist es Standard, dass der jeweilige Kirchenkreis einbezogen wird. Da ist so ein fehlender Austausch eigentlich unvorstellbar.“ Gerade bei Disziplinarverfahren hätte der Superintendent „etwas mitbekommen“ müssen. Wieso dies möglicherweise bei den „sechs bis acht“ gemeldeten Gelsenkirchener Fällen nicht erfolgt sei, lasse sich jedoch nicht mehr nachrecherchieren.

Kirchenkreis-Sprecherin Pfeiffer zeigt sich jedenfalls überrascht und „erschreckt“, dass in Gelsenkirchen und Wattenscheid „nur“ sechs bis acht Fälle öffentlich wurde. Sie fürchtet - wie auch die Macher der Forum-Studie -, „dass es sich hier um die Spitze des Eisbergs“ handelt. „Deshalb wollen wir uns auch nicht auf die genannte Zahl festlegen. Nicht dass der Eindruck entsteht, wir würden die Problematik leichtfertig abhaken.“

Umso eindringlicher appelliert sie an mögliche Betroffene sexualisierter Gewalt, sich an die unabhängige Anlaufstelle der evangelischen Kirche oder andere kirchliche Stellen zu wenden, ob persönlich oder per Mail, ob mit Namensnennung oder anonym. Auch Superintendent Heiner Montanus stehe als Leiter des Kirchenkreises zur Verfügung.

Gelsenkirchener Betroffene von sexualisierter Gewalt sollen sich melden

Doch egal auf welchem Weg: Die Verdachtsfälle müssen an die zuständigen kirchlichen Stellen gemeldet werden. „Dies kann in Absprache mit den Meldenden zunächst auch anonym geschehen“, so Pfeiffer. Übliches Verfahren ist es dabei, dass grundsätzlich auch eine Meldung an die staatlichen Ermittlungsbehörden erfolgt, „sofern sich ein Verdacht als plausibel erweist“, erläutert Scharenberg. Bestünden Hinweise auf dienstrechtliche Vergehen, würden dienstrechtliche Ermittlungen in Gang gesetzt.

„Wir, die Evangelische Kirche in Gelsenkirchen und Wattenscheid, sind von dem, was erforscht ung nachgewiesen und öffentlich gemacht wurde, in unserem Kern getroffen. Denn einiges von dem, was als ,typisch evangelisch‘ gilt, begünstigt Missbrauch und Vertuschung: zum Beispiel flachere Hierarchien, geteilte Ebenen der Zuständigkeit, das Pfarrbild, die enge Bezogenheit von Schuld und Vergebnung“, betont sie.

Gelsenkirchener Opfer von sexualisierter Gewalt können Antrag auf Anerkennungsgeld stellen

Die Verantwortlichen vor Ort müssten sich „jetzt intensiv und zügig der Aufgabe stellen, in all unseren Arbeitsbereichen Schutzkonzepte zu erarbeiten.“ Die Schulungen der Mitarbeitenden müssten dabei „anhand der Ergebnisse der ForuM-Studie konkretisiert“ werden.

Betroffene können grundsätzlich einen Antrag auf finanzielle Anerkennungsleistungen stellen. Dafür müssen sie sich an die Geschäftsstelle der Anerkennungskommission bei der FUVSS (Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung) bei der Diakonie RWL in Düsseldorf wenden. Die Antragstellung wird weiterhin dort im Verbund der Diakonie RWL mit den drei Landeskirchen in NRW bearbeitet.

Die Anlaufstelle für Betroffene ist online erreichbar (https://www.anlaufstelle.help). Betroffene können sich auch unter https://www.evangelisch-in-westfalen.de/angebote/umgang-mit-verletzungen-der-sexuellen-selbstbestimmung/ melden. Superintendent Montanus ist telefonisch erreichbar unter Telefon 0209 589 00 71 40.