Gelsenkirchen. Diverse Gesellschaft? Die Grünen sagen: Die Realität ist längst „superdivers“. Trotzdem mischen wenig Migranten politisch mit. Woran liegt’s?

Mit dem Begriff „Superdiversität“ warf NRW-Integrationsministerin Josefine Paul ein Wort in das Atrium der Evangelischen Gesamtschule Bismarck, „das vielleicht manch einer nicht so gerne hören möchte.“ So ein Wort, das mache „vielleicht erst einmal ein bisschen Angst“. Manch einer möge da denken: „Oh Gott, was ist denn superdivers? ,Divers‘ war doch schon schwierig?“ Aber die superdiverse Gesellschaft sei längst die Realität, so Paul – in NRW, erst recht im Ruhrgebiet, gerade in Gelsenkirchen. „Und unsere Aufgabe ist jetzt, das zu gestalten – zu einem gelingenden Gemeindewesen, zu einer funktionierenden, superdiversen Demokratie“, appellierte Paul in ihrem Vortrag am späten Samstagnachmittag vor rund 200 NRW-Grünen auf dem „Vielfaltskongress“ der Landespartei.

Nur wie soll das gehen – vor allem in einer Stadt wie Gelsenkirchen, in der sich die „Superdiversität“ vorrangig durch die vielen verschiedenen Migrationsgeschichten der Menschen ergibt? Menschen, die bislang im Verhältnis zu ihrem Gesamtanteil an der Stadtbevölkerung, eine verschwindend geringe Rolle in der Lokalpolitik spielen – das zeigt sich alleine mit Blick auf die Zusammensetzung der Fraktionen im Stadtrat. Übrigens auch bei den Grünen.

„Oh Gott, was ist denn superdivers?“: NRW-Familienministerin Josefine Paul auf dem Vielfaltskongress der Grünen in der Evangelischen Gesamtschule Bismarck:
„Oh Gott, was ist denn superdivers?“: NRW-Familienministerin Josefine Paul auf dem Vielfaltskongress der Grünen in der Evangelischen Gesamtschule Bismarck: © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Die Partei allerdings will sich den genannten Fragen zumindest stellen, vor allem hier auf dem „Vielfaltskongress“, wo bei verschiedenen Gesprächsformaten ausdiskutiert werden sollte, wie man sich für mehr Diversität einsetzen kann. Und beantworten kann diese Fragen vielleicht ein Parteimitglied am besten, das selbst eine Migrationsgeschichte hat. Wie Janina Singh – 28 Jahre alt, indischer Vater, angereist aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein und auf Listenplatz 19 für die Europawahl. „Bei mir gab es eine große Motivation, mich politisch zu engagieren, da die Wahlplakate in meinem Kreis nur Menschen geziert haben, die keine Vielfalt abbilden. Ich habe mich wenig bis gar nicht repräsentiert gefühlt. Es macht aber einen Unterschied, wenn man vielfältige Gesichter auf den Plakaten sieht“, meint sie.

Mit Migrationshintergrund in der Politik: „Manche Themen bekommst du schnell zugeschoben“

Auch Singh macht keinen Hehl daraus, dass die Grünen – trotz ihrer allgegenwärtigen Vielfalts-Botschaft – durchaus noch das Bild einer „weißen Akademikerpartei“ tragen. Ihr Wunsch: „Dass wir die Gesellschaft mehr abbilden.“ Mitgegründet hat Singh deswegen die Landesvereinigung „BuntGrün“ – eine Interessensvertretung und eine Austauschplattform für nichtweiße Menschen sowie Menschen mit „rassifizierten Diskriminierungserfahrungen“ wie Juden oder Roma. „Es ist total wichtig, dass wir uns gegenseitig stärken, uns gegenseitig empowern“, sagt Singh.

„Vielfaltskongress“ der NRW-Grünen: Reden über die „superdiverse Gesellschaft“.
„Vielfaltskongress“ der NRW-Grünen: Reden über die „superdiverse Gesellschaft“. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Ihre politischen Hauptthemen allerdings sind nicht etwa Migration oder Diversität, sondern Wirtschaft und Innovation. Ihren Bachelor machte die junge Politikerin in europäischem Wirtschaftsrecht, den Master in Pluraler Ökonomik. Es passiere aber durchaus, dass man Themen wie Integration oder Migration „schnell zugeschoben bekommt“, sagt sie. „Sodass man zuerst die Anfrage bekommt: Janina, kannst du nicht einen Workshop zum Thema Migration machen?“ Sie habe sich dann bewusst gegen solche Anfragen gestellt, deutlich gemacht, dass ihre politische Expertise woanders liege.

Grünen-Politikerin: Auch den alten, weißen Mann braucht man in der Politik

Aber warum ist es überhaupt entscheidend, dass die Repräsentanz von Migranten steigt in der Politik? Sollte eine professionelle Politikerin, ein professioneller Politiker nicht in der Lage sein, alle Interessensgruppen zu vertreten – den deutschen Juristen genauso wie das türkische Arbeiterkind oder die nigerianische Mutter? „Ich glaube, dass wir ganz andere Erfahrungen gemacht haben, sei es durch Rassismuserfahrungen oder unsere Sozialisierung“, sagt Janina Singh. „Mein Vater kommt ursprünglich aus Indien, das ist ein ganz anderer Kulturkreis. Politik und Religion verschwimmen dort beispielsweise ineinander.“ Das sei möglicherweise unverständlich für Leute, die sich nie tiefer mit dem Land beschäftigt hätten. Und mit diesem Wissen und dieser Erfahrung Politik zu machen, das sei nun einmal etwas ganz anderes.

Aber, das betont Singh ebenso, den heutzutage oft als politisches Schlagwort eingebrachten „alten weißen Mann“ in der Politik zu haben: „Das ist auch wichtig.“ Nicht zuletzt für ihren Werdegang sei es bedeutsam gewesen, „dass es gerade auch diese Menschen gab, die mich unterstützt haben.“

Lesen Sie auch das Kurz-Interview mit der Gelsenkirchener Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic, das wir am Rande des „Vielfaltskongresses“ geführt haben: Mihalic: So könnte Bezahlkarte für Flüchtlinge ein Erfolg sein.