Gelsenkirchen. „Gelsenkirchen hat den Bezug zur Normalität verloren“: Im Stadtrat artet es häufig aus. Nun tun sich vier Fraktionen für einen Plan zusammen.
Dass Handlungsbedarf besteht, um die chaotischen Zustände in der Gelsenkirchener Lokalpolitik irgendwie wieder einzufangen, wurde bei der jüngsten Ratssitzung wieder überdeutlich: Nach ellenlangen Debatten und grenzüberschreitenden Wortgefechten kam es sogar fast zu einer körperlichen Auseinandersetzung. „Gelsenkirchen hat den Bezug zur Normalität verloren“, sagte der Grünen Co-Fraktionsvorsitzende Peter Tertocha erst wenige Stunden vor jenem Tiefpunkt der kommunalpolitischen Geschichte Gelsenkirchens. Der Anlass: Die CDU hatte eingeladen, um der Öffentlichkeit, gemeinsam mit SPD, Grünen und FDP, einen Fünf-Punkte-Plan zur „Normalisierung“ der Ratsdebatten vorzustellen.
„Wir haben in Gelsenkirchen die längsten Ratssitzungen in NRW“
Wie sehr die Sitzung danach eskalieren sollte, wussten die führenden Köpfe der Fraktionen da noch nicht, ihre Hoffnung aber ist, dass sich durch diese fünf Änderungen in der Geschäftsordnung spürbar etwas ändert – und „die Attraktivität von Kommunalpolitik in Gelsenkirchen gestärkt wird“, formulierte es CDU-Chef Sascha Kurth. „Wir wollen die Sitzungen planbarer und kürzer machen. Schließlich erleben wir Situationen, die nur noch schwer vereinbar sind mit Job und Familie.“ Susanne Cichos von der FDP sagt deshalb: „Wir finden immer weniger, die sich unter diesen Bedingungen ehrenamtlich engagieren wollen“ – eine Erfahrung, die auch von den anderen geteilt wird.
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Alleine die letzte Ratssitzung ging übrigens – die einstündige Sitzungsunterbrechung nach der Beinahe-Prügelei mit einberechnet – fast acht Stunden. Wie Axel Barton von der SPD ergänzte, hätten Recherchen in umliegenden Städten gar ergeben: „Wir haben die längsten Ratssitzungen in NRW“. Tagesordnungen, die in anderen Städten in zwei, drei Stunden abgearbeitet werden, würden in Gelsenkirchen mehr als einen regulären Arbeitstag dauern. Das sei nicht nur hart für die ehrenamtlichen Politiker, sondern auch für die, die die Ratsdebatte über den Livestream verfolgen können. „Es ist ja überhaupt nicht planbar, wenn man zu einem bestimmten Tagesordnungspunkt einschalten möchte“, so Barton.
Redezeiten werden in Gelsenkirchen verkürzt
Die Redner sollen sich deswegen künftig bemühen, ihre Inhalte „kurz und prägnant zusammenzubringen“, forderte FDP-Fraktionschefin Susanne Cichos. Auf die Sprünge geholfen werden soll ihnen durch eine offizielle Halbierung der Redezeit – es ist die erste Maßnahme des Fünf-Punkte-Plans und eine Regelung, die schon einmal während der Corona-Zeit galt, wo man die Sitzungen zwecks Kontaktreduzierung so kurz wie möglich halten wollte. „Das ist uns ganz wichtig“, sagte Cichos. Pro Tagesordnungspunkt gilt eine Basisredezeit plus ein Aufschlag nach Fraktionsstärke. Am Beispiel der vierköpfigen FDP-Fraktion heißt das: Bislang durfte diese 14 Minuten sprechen (zehn Minuten Basisredezeit plus eine Minute für jedes Fraktionsmitglied). Künftig wären es dann nur noch sieben Minuten.
Verkürzt werden soll auch die Tagesordnungsdebatte, in der eigentlich kurz und bündig besprochen werden soll, worüber in der Sitzung überhaupt diskutiert werden soll. Oft allerdings zieht sich schon diese Debatte in Gelsenkirchen über eine Stunde – zum Beispiel, weil die AfD oder WIN zig Anträge mitbringt, die aus Sicht der anderen Fraktionen eigentlich in die Fachausschüsse gehören. „Deswegen wollen wir hier von drei auf eine Minute Redezeit pro Fraktion und pro Antrag runter“, sagte SPD-Fraktionschef Axel Barton.
Die Reduzierung soll auch – das ist die dritte Maßnahme des Plans – für den Punkt „Mitteilung und Anfragen“ gelten, der in der Regel zum Abschluss der Sitzungen auf der Tagesordnung steht. Barton: „Wir haben erlebt, dass hier noch mal 20 Minuten aus Wikipedia etwas vorgelesen wurde, um die Sitzung auszudehnen.“
Konsensliste soll Ratsdebatten in Gelsenkirchen verkürzen
„Wir wollen außerdem eine sogenannte Konsensliste einführen“, kündigte Peter Tertocha von den Grünen an. „Das heißt: Alle Tagesordnungspunkte, die in den vorangegangenen Debatten in den Ausschüssen oder den Bezirksvertretungen einstimmig waren, sollen zusammengefasst werden, damit diese im Rat in einem Durchgang beschlossen werden können.“ Die Idee habe man aus Wuppertal übernommen, um nicht wieder Diskussionen aufzumachen, die man längst in den Fachgremien geführt habe. Zwar, das gibt Tertocha zu, könne jemand auch wieder beantragen, einen Punkt von der Konsensliste zu lösen. Aber die Hoffnung ist: „Was in Wuppertal problemlos klappt, könnte auch in Gelsenkirchen klappen – es wäre zumindest ein Versuch.“
Der fünfte Punkt: „Ratssitzungen sollen künftig nicht mehr nach 20 Uhr fortgesetzt werden“, betonte Sascha Kurth (CDU). In einer Soll-Regelung werde die Sitzungszeit von 15 bis 20 Uhr festgelegt. „Das sind maximal fünf Stunden für eine Ratssitzung – immer noch zweimal so lange wie beispielsweise bei den Kollegen in Herne.“
„Es geht darum, die demokratische Debattenkultur wieder zurückzubekommen“, fasste Adrianna Gorczyk von den Grünen das Anliegen zusammen. „Die Kultur untereinander ist bisweilen unterirdisch und unzumutbar. Wir geben als Rat der Stadt aktuell kein gutes Vorbild ab für die Öffentlichkeit.“ Nicht ausschließlich, aber vor allem seien es die Vertreter der AfD und der WIN, die regelmäßig Störungen herbeiführen. „Es ist aber keine Regelung gegen etwas oder jemanden, sondern für eine bessere Debattenkultur.“ Die neuen Regelungen sollen dann bei der nächsten Ratssitzung des Gelsenkirchener Stadtrats am 21. März 2024 greifen.