Gelsenkirchen-Buer. Zeitreise in die Anfänge des Gelsenkirchener Kinos: Wilma Weißner (88) verbrachte dort ihre Kindheit zwischen Loge und großer Leinwand.
Eine schöne Kindheit im Zweiten Weltkrieg? Wilma Weißner (88) lächelt verschämt. „Ja, ich hatte eine wunderbare Zeit!“, sagt sie und strahlt, als sie die Schwarz-Weiß-Fotos jener Jahre zur Hand nimmt. Wie glücklich sie als Mädchen mit zwei Zöpfen da steht, umgeben von feierlich blickenden Erwachsenen in Livrees: Es sind Momentaufnahmen voller Unbeschwertheit; das Grauen der Bomben scheint weit weg. Und das war es offenbar auch oft, als die gebürtige Bueranerin mit ihrer Familie drei Jahre im Schauburg-Filmpalast lebte.
Schon kurz nach ihrer Geburt 1935 wurde das sechs Jahre zuvor eröffnete Lichtspielhaus an der heutigen Horster Straße ihr zweites Zuhause. „Mein Vater Franz Aring war seit 1929 Bühnenmeister, er gestaltete die Kulissen für die Operetten-Aufführungen. Und meine Mutter Alwine hat dort als Platzanweiserin gearbeitet. Da war es ganz selbstverständlich, dass meine zwei Brüder und ich häufig dort waren“, erzählt sie, warum sie „im Grunde im Kino aufgewachsen“ ist.
Das lichtdurchflutete Foyer mit der Garderobe und dem großzügigen Treppenaufgang, die mit Nussbaumholz getäfelten Wände, die Logen in der Rückwand des großen Saals mit 1062 Plätzen im Parkett und 385 im Rang, dann der Orchestergraben für die musikalische Begleitung der Stummfilme, aber auch von Operetten und Konzerten: All das kennt Wilma Weißner aus eigener Anschauung. „Die rechte Eckloge war immer für mich reserviert. Ich habe dort unzählige Filme und Operetten gesehen und immer mal wieder meine beste Freundin Christa eingeschleust.“
Gelsenkirchener Mitarbeiter-Familie zog 1942 in die Schauburg in Buer
Wie begeistert das Premieren-Publikum vor 95 Jahren war, als am 31. Januar mit „Marquis d‘Eon - Der Spion der Pompadour“ der erste (Stumm-)Film über die buersche Leinwand flimmerte, davon weiß die 88-Jährige höchstens aus Erzählungen der Erwachsenen. Das „Hochgefühl“ aber, die „gebieterische Feierstimmung“, die ein Studienrat Schmitz bei der Eröffnung in pathetische Worte fasste, kann sie nur zu gut nachvollziehen. „Es war so ein tolles Kino“, schwärmt sie noch heute. Von 1942 bis 1945 konnte sie es besonders intensiv erleben.
„Nachdem mein Vater und mein älterer Bruder eingezogen worden waren, wurde meine Mutter das Mädchen für alles. Sie fegte nicht nur, sondern sprang auch als Filmvorführerin ein. Und weil der Betreiber nach den Bombenangriffen keine Zeit verlieren wollte, sind meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich in die Kellerräume des Bühnenhauses gezogen, das sich damals zwischen der heutigen Ophofstraße und der Schauburg befand und längst abgerissen ist. So konnten die Aufführungen unmittelbar nach dem Ende der Bombardierungen schnell fortgesetzt werden.“
Gelsenkirchener Schauburg-Bewohner versteckten sich im Heizungskeller vor Amerikanern
Die Künstler-Umkleideräume waren zwar nur provisorisch mit Betten, Tisch und Stühlen eingerichtet. „Aber meine Mutter musste nun mal immer parat stehen. Und für mich als Sieben- bis Zehnjährige war es ein großes Abenteuer. Meine Freundinnen haben mich darum beneidet, in einem Kino zu Hause zu sein.“ Welcher damals ihr Lieblingsfilm oder -schauspieler war? „Heinz Rühmann und Hans Albers mochte ich ganz gern. An einzelne Filmtitel erinnere ich mich aber nicht mehr.“
Wie ängstlich sie und die übrigen Verbliebenen jedoch im Heizungskeller hockten, als an Ostern 1945 die Amerikaner auf der Suche nach versteckten deutschen Soldaten die Schauburg stürmten: Das ist ihr noch sehr präsent. „Wir hatten das Rolltor heruntergelassen, weil wir ja nicht wussten, was uns drohte. Als die Amis aber erkannten, dass sich dort nur Zivilisten befanden, waren sie reizend zu uns. Uns Kindern steckten sie sogar Schokolade zu.“
Nach Kriegsende besuchten Peter Alexander und Marika Rökk das Gelsenkirchener Kino
Fortan liefen US-Filme in Dauerschleife, Nikotinrausch inklusive. „Die Amis rauchten während der Vorführungen so viel, dass wir Kinder die Zigarettenstummel im Kinosaal aufsammelten, aufschnitten und die Tabakreste herauspuhlten, um sie gegen Zucker und Mehl einzutauschen.“ Die Eltern blieben weiterhin dort beschäftigt, während die junge Wilma eine Ausbildung im Rundfunkgeschäft Siegler begann. „Weil der Laden in die Insolvenz rutschte, habe ich meine Lehre nach einem Jahr bei Elektro Langenfeld fortgeführt.“
Die Schauburg in Buer: Chronik und Jubiläumsfeier
1928 nach Plänen des Architekten Carl Wagner errichtet, eröffnete der Filmpalast an der heutigen Horster Straße 6 am 31. Januar 1929 mit insgesamt rund 1400 Plätzen. Betreiber war die Münchener Filmgesellschaft Emelka, die aber schon 1930 in Konkurs ging. Die Stadt übernahm das Haus in den 1930ern nach diversen Besitzer- und Betreiberwechseln und vermietete es an Franz Müller, der es - nach Sanierung und Umbau 1952 - bis 1965 führte.
In den 1970er Jahren übernahm die Sprenger GmbH den Betrieb mit mittlerweile 1224 (komfortableren) Plätzen. Es entstand das Studio. Einige Jahre später wurde der alte Rang abgetrennt, das Lux entstand. Seit deren Konkurs 1995 führt Michael Meyer das Traditionskino. Der Schauburg-Saal verfügt heute über 420 Plätze, im Lux gibt‘s 255, im Studio 70 Plätze. Die großen Säle verfügen über modernste Laserprojektoren, das Studio über einen Sony-4-K-Projektor.
Zum 95. Jubiläum am Mittwoch, 31. Januar, 20 Uhr, zeigt Betriebsleiter Ralf Kolecki einen seiner Lieblingsfilme, dazu gibt‘s ein unterhaltsames informatives Rahmenprogramm. Der Eintritt ist frei. Es gibt noch einige Restkarten für die insgesamt nur noch 420 Plätze. Reservierung: 0209 35976997.
Die Leidenschaft für „ihren“ Filmpalast, die blieb freilich, zumal nun Stars wie Peter Alexander, Marika Rökk oder Vico Torriani dort Gastspiele gaben. „Die Rökk fand ich damals schon sehr beeindruckend...“, erinnert sie sich. Buer als Kultur-Hotspot für Deutschlands Musik-Promis: Das war großes Kino (nicht nur) für den „Backfisch“. Das Haus machte auch über Gelsenkirchens Grenzen hinaus Schlagzeilen.
Ihre große Liebe Alfred Weißner lernte sie 1952, natürlich, in der Schauburg kennen. „Er war der Bruder unserer Kassiererin.“ Sie heirateten 1957, schon ein Jahr später zogen sie nach Mülheim-Saarn um, weil der Heizungs- und Sanitär-Installateur dort einen Betrieb übernahm. Vier Söhne gingen aus der Ehe hervor, von denen einer – Uwe – die Firma heute fortführt.
Gelsenkirchener Schauburg-Betriebsleiter begegnete einstiger Kino-Bewohnerin per Zufall
Dass Wilma Weißner noch immer an Buer und der Schauburg hängt, wissen die Söhne. „Ich muss immer wieder mal dorthin“, sagt sie fast entschuldigend. Der letzte Besuch liegt erst einige wenige Wochen zurück. Per Zufall traf sie vor dem Kino auf einen „Mann mit Schlüssel“ und sprach ihn an. Es war Betriebsleiter Ralf Kolecki, der sich sofort bereiterklärte, die Seniorin und ihren Sohn durchs Haus zu führen. „Ich konnte es zuerst gar nicht glauben, dass sie als Kind hier gewohnt hat“, berichtet er.
Man verabredete sich zum Kaffeetrinken in Mülheim, wo die 88-Jährige anschaulich erzählte und auch Einblicke in ihre alte Foto-Kiste gewährte. Kolecki war begeistert. Mit so einer faszinierenden Zeitreise in die Vergangenheit der Schauburg, und dann auch noch pünktlich zum 95. Geburtstag am 31. Januar, hatte er nicht gerechnet.
Wilma Weißner unterdessen zeigt sich glücklich, ihr einstiges Zuhause noch mal aus nächster Nähe erkundet zu haben. „Auch wenn es einige bauliche Veränderungen und Modernisierungen bei der Technik gab, so ist es doch immer noch meine Schauburg.“ Kurz: Wenn jemand, wie 1929, vom schönsten Kino Deutschlands schwärmte – sie würde nicht widersprechen.