Gelsenkirchen-Horst. 1946 wurden in Gelsenkirchen-Horst 7000 Menschen vom Wasser eingeschlossen, vier starben. Mit Flößen wurden sie von Dächern gerettet.

„Land unter“ in Gelsenkirchen: Davon blieben die Menschen vor Ort aktuell verschont. Zum Glück. Denn was die Emscher vermag, daran werden sich ältere Bürgerinnen und Bürger mit Grausen erinnern: Im Februar 1946 brach nach langem, heftigen Regen der Damm zwischen Horst-Süd und Karnap auf einer Länge von 50 Metern – und eine stinkende Brühe ergoss sich allein in Horst über rund 80 Hektar. 7000 Menschen wurden in ihren Häusern eingeschlossen, vier Personen ertranken, 17 wurden verletzt. Und Hunderte mussten nicht mal ein Jahr nach Kriegsende ein weiteres Mal neu anfangen.

Es war in der Nacht zum 9. Februar 1946, als der Deich ohne Vorwarnung brach. In kürzester Zeit stand das Wasser aus der „Köttelbecke“ zwei bis drei Meter hoch, an der Nordstern-/Strickerstraße gar fast sechs Meter. „Das Wasser kam so schnell, dass viele nur das nackte Leben retten konnten“, hielt Philipp Halbeisen (1891-1970), damals Pfarrer in St. Laurentius Horst-Süd, in einem Bericht fest. Sogar bis zum Schloss und zur Rennbahn drang die übel riechende, trübe Flut, so Johann Kollner, später Mitbegründer des Fördervereins Schloss Horst.

Für die Rettungsaktion in Gelsenkirchen wurden Flöße vom Berger See ausgeliehen

Weil die Pumpstationen an der Emscher versagten, stieg das Wasser in einigen Straßen, besonders um den Bahnhof Horst-Süd, bis zu den Hausdächern, wohin die Menschen geflüchtet waren und auf Hilfe warteten. Sie mussten länger ausharren: Der Versuch, mit Flößen aus Grubenholz zu den überschwemmten Häusern vorzudringen, scheiterte, da das feuchte Holz nicht trug. Erst mit Hilfe von Flößen und Kähnen – ausgeliehen vom Berger See – gelang es, die rund 2000 Personen zu retten.

3000 Menschen wurden in diesen Tagen obdachlos. Sie mussten in Notunterkünften untergebracht werden. Im Horster Gesellenhaus etwa erhielten (nicht nur) sie eine warme Mahlzeit, die Bevölkerung spendete nach einem Aufruf von Oberbürgermeister Robert Geritzmann auch Kleidung, Decken, Matratzen, Kochgeschirr, Petroleum und Kerzen. Man half sich eben in der Not und teilte. Wie es ist, nur Leib und Leben zu retten, das hatten viele nach den Bombennächten im Zweiten Weltkrieg noch sehr gut in Erinnerung.

Bergleute der Zeche Nordstern halfen, den Damm in Gelsenkirchen zu reparieren

Hoch stehendes Grundwasser vermischte sich mit Abfall, menschlichen und tierischen Fäkalien sowie Hochwasser der Emscher zu einer stinkenden, mit Krankheitskeimen belasteten Brühe. Das Foto von 1909 zeigt den Blick auf den Schleusengraben im alten Emscherverlauf, im Hintergrund sind der Bahnhof Horst-Süd und die Zeche Nordstern zu sehen.     
Foto: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen
Hoch stehendes Grundwasser vermischte sich mit Abfall, menschlichen und tierischen Fäkalien sowie Hochwasser der Emscher zu einer stinkenden, mit Krankheitskeimen belasteten Brühe. Das Foto von 1909 zeigt den Blick auf den Schleusengraben im alten Emscherverlauf, im Hintergrund sind der Bahnhof Horst-Süd und die Zeche Nordstern zu sehen.      Foto: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen © WAZ | Institut für Stadtgeschichte

Erst 14 Tage später gelang es mit Unterstützung von Bergleuten der Zeche Nordstern, den Bruch im Damm zu reparieren, so Hobby-Historiker Reinhold Adam. Großpumpen, ebenfalls aus „Nordstern“-Beständen, transportierten das Wasser in die Emscher zurück.

„Die kleine Schwatte“, wie der Fluss auch genannt wurde, sie hatte eindrucksvoll ihre Kraft unter Beweis gestellt. Wieder einmal, wie der Blick in die Geschichtsbücher zeigt. Denn die mäandrierende Emscher bereitete der Bevölkerung seit jeher Probleme. Schon im 16. Jahrhundert verwandelte sie den Emscherbruch in eine weit verzweigte Flusslandschaft, auch weil in ihrem Bett Bäume und Sträucher zu finden waren und sie sich ihren Weg suchen musste.

Bergbau-Senkungen hatten auch in Gelsenkirchen katastrophale Auswirkungen

Starke Regenfälle und Tauwetter im Winter verschärften die Lage immer wieder. Im Februar 1830 etwa standen sieben Häuser in Beckhausen so tief unter Wasser, dass deren Bewohner samt Vieh und Mobiliar flüchten mussten, berichtet der Erler Heimatforscher Hubert Kurowski.

Massiv verstärkt wurden die Probleme noch durch den Bergbau Ende des 19. Jahrhunderts. Aufgrund von Bodensenkungen war die natürliche Vorflut auch in den Emscher-Nebenflüssen nicht mehr gegeben – die Häufigkeit der Überschwemmungen nahm zu, mit „katastrophalen Auswirkungen“ auf die Landschaft, die Tiere und die Menschen sowie deren Gesundheit, wie Kurowski hervorhebt.

Überflutungen in Gelsenkirchen begünstigten Epidemien

Der Erler Heimatforscher Hubert Kurowski hat den Fluss Emscher für ein Buchprojekt in all seinen historischen Facetten untersucht: Die Auswirkungen der Überflutungen waren für die Menschen katastrophal, so sein Fazit.
Der Erler Heimatforscher Hubert Kurowski hat den Fluss Emscher für ein Buchprojekt in all seinen historischen Facetten untersucht: Die Auswirkungen der Überflutungen waren für die Menschen katastrophal, so sein Fazit. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Der Fluss führte neben Schmutzwasser und Fäkalien aus den Haushalten auch Abwasser des Bergbaus sowie anderer Industrien und des Gewerbes mit sich. Wenn er also alljährlich nach heftigen Regenfällen und bei Tauwetter im Frühjahr über die Ufer trat, blieben dort giftige Reste zurück – eine Brutstätte für Krankheitskeime. Und damit der Stoff, aus dem Epidemien gemacht sind: 1901 etwa erkrankten 3200 Menschen im heutigen Gelsenkirchen an Typhus, 300 starben. Auch die Cholera verbreitete sich immer wieder.

Nach ersten Säuberungsaktionen und Regulierungsversuchen in den 1850er Jahren sollte es eben Jahrzehnte dauern, bis die Emschergenossenschaft gegründet wurde (1904) und sich Fachleute professionell um eine Regelung der Vorflut und die Abwasserreinigung kümmern konnten. Überschwemmungen gänzlich verhindern konnten sie freilich nicht: Die Flut im Februar 1909 erlebten die Menschen nicht nur in Gelsenkirchen(-Horst) als Katastrophe, die eine Person das Leben kostete und hohe Sachschäden anrichtete.

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Dennoch: Die Anwohnerinnen und Anwohner arrangierten sich mehr oder weniger mit der Emscher. Als Sachverständige nach dem Hochwasser 1946 das Gebiet für „unbewohnbar“ erklärten, ließen sie sich nicht beirren. Sie trugen den braunen, stinkenden Schlamm mit Eimern aus den Häusern und machten sich, mal wieder, an einen Neuanfang. Der letzte war schließlich gar nicht so lange her.