Gelsenkirchen. Der Mediziner inspizierte die Bekämpfung der Seuche in Gelsenkirchen, deren Dramatik die Stadt weithin bekannt machte. Rund 300 Menschen starben.

Fieber, Husten, Kopf- und Gliederschmerzen: Wer dabei an Corona denkt, kann durchaus richtig liegen. Muss sie oder er aber nicht. Schon im Sommer 1901 verbreiteten diese Symptome Angst und Schrecken entlang der Emscher – als Anzeichen einer Typhus-Erkrankung. Eine Epidemie mit mehreren Hundert Toten machte Gelsenkirchen und nicht zuletzt die „Jaucheseen“ in Erle weithin bekannt und veranlasste den Mediziner Robert Koch zu einem folgenreichen Studienaufenthalt vor Ort.

Was Wissenschaftler wie er hier zu sehen bekamen, es sorgte für Entsetzen. Allerdings offenbar weniger aus Mitgefühl mit den rund 3200 Erkrankten, 300 Todesopfern und deren Angehörigen als vielmehr aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen des aufstrebenden Industrie-Standorts mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung.

Gelsenkirchener hatten Probleme, genügend Platz für Erkrankte in Hospitälern zu finden

Hoch stehendes Grundwasser vermischte sich mit Abfall, Fäkalien von Menschen und Tieren und Hochwasser der Emscher zu einer stinkenden, mit Krankheitskeimen belasteten Brühe. Das Foto von 1909 zeigt den Blick auf den Schleusengraben im alten Emscherverlauf, im Hintergrund sind der Bahnhof Horst-Süd und die Zeche Nordstern zu sehen.       
Hoch stehendes Grundwasser vermischte sich mit Abfall, Fäkalien von Menschen und Tieren und Hochwasser der Emscher zu einer stinkenden, mit Krankheitskeimen belasteten Brühe. Das Foto von 1909 zeigt den Blick auf den Schleusengraben im alten Emscherverlauf, im Hintergrund sind der Bahnhof Horst-Süd und die Zeche Nordstern zu sehen.        © Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen

Dass das Meldewesen „gut organisiert“ war, musste Robert Koch, Leiter des von ihm gegründeten „Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten“, den Gelsenkirchenern jedoch sehr wohl eingestehen. Das erst im Juni 1900 in Kraft getretene Reichsseuchengesetz schienen die Verantwortlichen umzusetzen. Es sah nicht nur die Anzeigepflicht für Krankheiten wie Typhus vor, sondern auch bakteriologische Untersuchungen, die Absonderung von Kranken, die Überwachung von Kontaktpersonen, die Beobachtung Krankheitsverdächtiger sowie verschiedene Desinfektionsmaßnahmen.

„Die Kranken werden, soweit es irgend zu erreichen ist, in die Hospitäler geschafft, und zwar unter allen Vorsichtsmaßregeln, welche geboten sind, um eine Verschleppung des Infektionsstoffes auszuschließen“, berichtete Koch im Oktober 1901 dem zuständigen Minister nach Berlin. Wie in der Corona-Pandemie heute, so war es offenbar auch vor 120 Jahren nicht einfach, „für so viele Kranke in kürzester Frist ausreichende Unterkunft zu schaffen.“

Abwasser-Entsorgung in den Ortschaften war katastrophal

Hubert Kurowski, Heimatforscher aus Gelsenkirchen-Erle, hat dem Fluss Emscher ein ganzes Buch gewidmet. Darin verweist er auch auf die Gefahr für die Gesundheit der Menschen, die von Überschwemmungen ausging.
Hubert Kurowski, Heimatforscher aus Gelsenkirchen-Erle, hat dem Fluss Emscher ein ganzes Buch gewidmet. Darin verweist er auch auf die Gefahr für die Gesundheit der Menschen, die von Überschwemmungen ausging. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Immerhin: 80 Prozent der Patienten seien stationär untergebracht worden, so Koch. Zudem seien die Toiletten in den Wohnungen der restlichen Infizierten von speziell ausgebildeten Desinfektoren gereinigt worden.

Dass Hygiene eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der schweren Durchfall-Erkrankung spielt, war den Zeitgenossen schon damals klar. Und so analysierten Fachleute wie Robert Koch nach dem explosionsartigen Typhus-Ausbruch besonders die Trinkwasser-Versorgung und die Abwasser-Entsorgung. Ihr Fazit: Beides war zum Teil katastrophal.

Abfall wurde kurzerhand vors Haus geworfen

Mit einer (mangelhaften) Kanalisation versehen waren 1901 nur der südliche Teil von Gelsenkirchen und ein kleiner Teil des noch nicht eingemeindeten Ückendorf. Auch eine ausreichend geregelte Entsorgung des Hausmülls existierte nicht. So wurde Abfall kurzerhand vors Haus geworfen, vermischt mit menschlichen und tierischen Fäkalien, etwa aus der weit verbreiteten Schweinezucht. Die Folge: bestialisch stinkende Jauchegräben.

Augenzeugen sparten nicht an drastischen Schilderungen: „Dann schwimmt der ganze Abraum von den Feldern, Höfen, Straßen und ebenso die Jauche aus den offenen Senken und Mistgruben in die Sammelgräben und von dort in die Keller der Häuser und auf die umliegenden Terrains, nach dem Abzug des Wassers eine dicke Schlammschicht zurücklassend“, berichteten der Münchener Hochschul-Professor Dr. Rudolf Emmerich und der Hamburger Arzt Dr. Friedrich Wolter, die 1906 ein Gutachten zu den Entstehungsursachen der Gelsenkirchener Epidemie veröffentlichten.

(Nicht nur) Erles Jaucheseen erlangten weithin traurige Berühmtheit

Bei einzelnen Gräben, etwa im noch eigenständigen Schalke, sei das Erdreich so versumpft gewesen, „dass man erst in einer Tiefe von 3 m auf festen Grund kommt“. In Erle sei ein „Jauchesee“ an der Marktstraße gar rund 500 Quadratmeter groß und bis zu 30 Zentimeter tief gewesen, berichtete das Duo fassungslos; ein Foto mit zwei kleinen Mädchen in weißen Rüschenkleidchen vor rußgeschwärzten Hausfassaden und Jaucheteich illustriert die Dimensionen anschaulich.

Ob nun in den (noch nicht eingemeindeten Ortschaften) Erle, Bismarck, Rotthausen oder in der Feldmark: „In fast allen Häusern, die ich besuchte, waren die Abortgruben, in welche die Menschen- und Schweineexkremente fallen, bis zum Überlaufen voll, weil das Grundwasser in dieselben eindrang und die Kotmischung zeitweise zum Überlaufen brachte“, so Emmerich und Wolter weiter. Dass (nicht nur) in Erles überfluteten Kellern auch Lebensmittel gelagert wurden, entsetzte die Wissenschaftler massiv.

Emscher-Überschwemmungen trugen giftigen Schlamm in die Häuser

„Besonders schlimm sind auch die Häuser der Zechenkolonie ,Graf Bismarck II’ in Erle dran“, so das Urteil. Ein hoher Damm, der nicht durchstochen werden dürfe, halte die Jauche aus Schweineställen und überlaufenden Abort- und Jauchegruben auf; Blutlachen und Schlachtabfälle führten dem Boden „zur Kultur der Typhusbazillen ganz besonders geeignete Nährstoffe zu und sichern die unbeschränkte Vermehrung von Ratten und Mäusen, welche“ diese„auf die Nahrungsmittel der Menschen übertragen.“

Bodensenkungen, bedingt durch den Bergbau, hatten zu Senkungen des Flusslaufs der Emscher und ihrer Nebenflüsse geführt, die die Abwässer im gesamten Ruhrgebiet abtransportierten, inklusive gewaltiger Abwassermengen der Zechen, anderer Industrien und des Gewerbes. „Verstärkt wurden die gesundheitsgefährdenden Zustände noch dadurch, dass die anliegenden Ufergelände häufig (von der Emscher, d. Red.) überschwemmt wurden und giftige Reste zusätzlich zu einer Brutstätte für Typhus- und Cholerabazillen wurden“, erläutert der Erler Heimatforscher Hubert Kurowski.

Robert Koch identifizierte verunreinigtes Trinkwasser als Ursache der Epidemie

Robert Koch freilich war sich sicher, dass maßgeblich verunreinigtes Trinkwasser aus dem Wasserwerk in Steele zu dem massiven Typhus-Ausbruch geführt habe, weil während der trockenen Zeit im Sommer unfiltriertes Wasser aus der Ruhr in die Leitungen gepumpt worden sei. Insofern betrachtete er die „gelungene“ Reinigung der Trinkwasserleitungen mit Schwefelsäure als nachhaltigen Beitrag, die Epidemie zu stoppen. Die „Kloake“ Emscher war schon Jahrzehnte zuvor als Quelle für Trink- und Nutzwasser unbrauchbar geworden.

Von erbosten Klagen über „aashaften Geruch“ des Trinkwassers und darin gefundene Lebewesen „von Würmern bis zu toten Tieren“ wusste damals auch die „Gelsenkirchener Zeitung“ zu berichten, wie Historiker Martin Weyer-von Schoultz für sein 1994 veröffentlichtes Buch „Stadt und Gesundheit im Ruhrgebiet 1850-1929“ recherchierte. Zwei Direktoren mussten sich am Ende wegen „Verfälschung des Wassers“ vor Gericht verantworten und wurden 1904 schuldig gesprochen. Aber erst 1911, so Weyer-von Schoultz, verbesserte sich die Qualität des Trinkwassers, als dessen Desinfektion mit Chlorkalk vorgeschrieben wurde.

Hygieniker initiierte Gründung von Bakteriologischem Institut und Verein

Bereits neun Jahre zuvor, im Mai 1902, hatte das von Robert Koch initiierte Bakteriologische Institut seine Arbeit aufgenommen mit dem Ziel, durch entsprechende Untersuchungen die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung des Abwassers zu verbessern.

Auf den berühmten Mikrobiologen und Hygieniker geht auch die Gründung des „Vereins zur Bekämpfung der Volkskrankheiten im Ruhrkohlengebiet“ im Januar 1902 zurück. Beide Einrichtungen existieren noch heute in Gelsenkirchen – und machen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten stark für die Eindämmung der Corona-Pandemie heute.