Gelsenkirchen. Willkommenskultur für Ukrainer in Deutschland? Es gibt auch Gegenbeispiele, wie der schwierige Fall eines Paars in Gelsenkirchen zeigt.
Leonid Silich ist Pazifist – für ihn ist dieser Krieg nichts weiter als sinnlos. Statt sich für sein Heimatland, für die Ukraine, an der Front zu opfern, wollte er bei seinen Geliebten sein. „I think, men should protect their family first“, sagt auch seine Lebensgefährtin Hanna Savoda, die in der Ukraine als Englisch-Dozentin arbeitete – zuallererst müssten Männer ihre Familie beschützen. Warum, fragt die 32-Jährige, die aus Kreminna, einer längst zerstörten Stadt im Osten der Ukraine kommt, sollte man für ein Land sterben, das es nicht schaffe, sein Volk zu beschützen? Es ist eine Haltung, für die das Paar viel Gegenwind bekommt bei anderen, zumeist weiblichen Kriegsflüchtlingen, die hier in Gelsenkirchen leben. Aber das, sagen die beiden, hielten sie aus. Schwierig sei das Leben hier aus ganz anderen Gründen.
Ukrainer wurde in anderes Bundesland geschickt und darf nicht nach Gelsenkirchen
Denn auf Bürgergeld oder Sozialleistungen muss Leonid Silich komplett verzichten. Sogar werden seiner Freundin Leistungen abgezogen, weil er mit ihr zusammenwohnt. Die Konsequenz: Das Paar, das gemeinsam Savodas vierjährigen Sohn aus einer anderen Beziehung großzieht, lebt hier in Gelsenkirchen in Armut, muss zu dritt mit rund 500 Euro im Monat auskommen. Denn Silich müsste eigentlich ganz woanders wohnen, im hessischen Gießen, über 200 Kilometer entfernt.
Dorthin wurde der 30-Jährige zugewiesen, als er im Mai 2022 seiner Freundin nach Deutschland folgte und sich bei der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Bochum meldete – und das, obwohl er nach eigener Darstellung zu jeder Gelegenheit deutlich machte, dass er nach Gelsenkirchen zu seiner Lebenspartnerin möchte.
„Geflüchtete aus der Ukraine werden [...] nach einer festgelegten Quote auf die Bundesländer verteilt“, heißt es von der verantwortlichen Bezirksregierung Arnsberg auf Nachfrage. Im Mai 2022, also als sich Silich in Bochum meldete, sei die festgelegte Aufnahmequote in NRW jedoch vorübergehend erfüllt gewesen. Daher sei die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen als nächstgelegene, aufnahmepflichtige Anlaufstelle benannt worden. Mehr dazu: Warum die Zuweisung von Flüchtlingen so problematisch ist
Von Gießen nach Gelsenkirchen? Warum ein Umzug von Flüchtlingen so schwierig ist
Mit der Zuweisung wurde Silich an seine sogenannte Wohnsitzauflage gebunden. Die Idee dahinter ist, dass Schutzsuchende für einen Zeitraum von drei Jahren dort bleiben, wohin sie zugeteilt wurden – sofern sie ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern können, keine Ausbildung oder kein Studium absolvieren. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist bei Ukrainern aber bekanntlich nicht einfach, aufgrund der Sprachbarrieren oder Hürden bei der Anerkennung von Qualifikationen. Ein gelernter Physiotherapeut wie Leonid Silich hat es da schwer, eine ehemalige Hochschuldozentin wie Hanna Savoda auch.
Wie Mailverläufe und Dokumente zeigen, schlugen bislang jegliche Versuche fehl, Silichs Wohnsitzauflage per Antrag aufzuheben. Obwohl sogar ärztliche Atteste vorliegen, dass Hanna Savoda, die unter einem Bandscheibenvorfall leidet, gut Unterstützung im Alltag gebrauchen könne, die Unterstützung ihres Partners aus Ärztesicht gar „unentbehrlich“ sei: Die zuständige Bezirksregierung in Arnsberg bleibt hart.
„Völlig ungerecht, zum Verzweifeln“ findet das Olga Markina, die Dolmetscherin des Paares. Mit vielen Schutzsuchenden sei sie in Kontakt, viele Probleme habe sie lösen können. „Aber so etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt die gebürtige Kasachin und behauptet: Bei anderen Paaren sei der Umzug überhaupt kein Problem gewesen, ob es sich um verheiratete Paare handele oder nicht.
Die Unterstützung, die seine kleine Familie benötigt, will Silich auch leisten. Gemeldet ist er deswegen jetzt in Gelsenkirchen. „Ich kann meine kranke Frau nicht einfach mit dem Kind hier alleine sitzenlassen. Das kommt nicht in Frage“, heißt es in einer Mail von ihm an die Behörden. Aber weil Silich eigentlich in Gießen leben müsste, erhält er in der Konsequenz keine Sozialleistungen, weder aus Hessen noch aus Gelsenkirchen.
Ukrainische Familie bekommt viel weniger als andere Bürgergeld-Empfänger
Sogar werden die Jobcenter-Leistungen für seine Freundin und sein Kind jetzt gekürzt. Silich bildet mit den beiden nämlich eine Bedarfsgemeinschaft. Würde er Bürgergeld bekommen, so würde auch der Gesamtbedarf der Familie höher ausfallen, sie würde insgesamt mehr Geld bekommen. Da Silich aber kein Bürgergeld erhält, wird er berücksichtigt wie jemand, der eigenes Geld verdient – infolge wird der gesamte Bedarf der Familie heruntergerechnet.
„Um sich über Wasser zu halten, machen sie jetzt schon Schulden bei anderen Leuten. So kann es nicht weitergehen“, sagt Olga Markina, die deswegen über eine Kanzlei jetzt Klage beim Verwaltungsgericht gegen die Wohnsitzauflage eingereicht hat.
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Gut sind die Aussichten allerdings nicht. Wie die Bezirksregierung auf Nachfrage erklärt, ist eine Aufhebung der Wohnsitzauflage nur unter bestimmten gesetzlich geregelten Bedingungen möglich. Dazu fällt unter anderem der Zuzug zum Wohnort des Ehe- oder des eingetragenen Lebenspartners. „Der Zuzug zum Wohnort des Lebensgefährten bzw. der Lebensgefährtin ist hiervon jedoch ausdrücklich nicht umfasst“, heißt es. Ausnahmen von der gesetzlichen Vorgabe seien nicht möglich.
Leonids Silichs Schicksal scheint damit in Stein gemeißelt – allein durch die Zuweisung im Jahr 2022. „Schwachsinnig“ findet das seine Dolmetscherin. „Bitter, dass es diesen Menschen so schwierig gemacht wird.“