Gelsenkirchen-Altstadt. Zum 2. Jahrestag der Ausschreitungen vor Gelsenkirchens Synagoge steht der alltägliche Judenhass im Fokus. Polizeidirektor entschuldigt sich.

Schrecken, Stille, Unglaube: Das kurze Handy-Video war aus Gelsenkirchen, die Straße gut erkennbar. „Scheiß Juden!“ skandierte die fahnenschwenkende Menge deutlich hörbar. Zum zweiten Jahrestag der antisemitischen Ausschreitungen an der Gelsenkirchener Synagoge suchte ein Themenabend nach Antworten für die Hintergründe und für den Umgang miteinander in der Zukunft.

Das Video wirkte nach an diesem Abend, die Erläuterungen von Fabian Schulz, Initiative gegen Antisemitismus, trugen ihren Teil bei. „Es war absurd, die etwa 180 Teilnehmer an dem Aufmarsch haben später am Bahnhof getanzt und gesungen“, schilderte er, „Aber: Dieser Vorfall am 12. Mai kam nicht aus dem Nichts.“ Der Abend solle zur Klärung beitragen, wo Gelsenkirchen heute stehe, und was passiert war.

Schockierendes Handy-Video der Ausschreitungen in Gelsenkirchen

NRW-Innenminister Herbert Reul, so Schulz, habe anschließend eingeräumt, es sei zu einer massiven Fehleinschätzung gekommen, es würde in Gelsenkirchen nichts passieren. Vorab habe es allerdings an anderen Orten angesichts des neu aufflammenden Nahost-Konflikts durchaus schon Vorfälle gegeben. Auch seien Hinweise im Internet aufgetaucht.

Bahar Aslan (l.) moderierte den Themenabend mit (v.l.) Ronen Steinke, Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antisemitismus, die Jugendleiter Valeria, Daniel und Gloria (r.) sowie Polizeidirektor Peter Both in der jüdischen Gemeinde.
Bahar Aslan (l.) moderierte den Themenabend mit (v.l.) Ronen Steinke, Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antisemitismus, die Jugendleiter Valeria, Daniel und Gloria (r.) sowie Polizeidirektor Peter Both in der jüdischen Gemeinde. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Sehr emotional hatte Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, in ihrer Eröffnung unterstrichen: „Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass an gleicher Stelle wie zur Zeit des dritten Reichs so etwas passieren kann.“ Nachdem nun erst vor wenigen Tagen in der Gemeinde ein anonymer Hetzbrief angekommen sei, fragte sie traurig und wütend: „Hört es denn nie auf?“ Denn es gebe einfach keine Antworten auf die Frage nach dem „Warum“.

Wünsche für die Stadtgesellschaft in Gelsenkirchen

Ihr Judentum verstecken, die Heimat verlassen, „das hätte Adolf Hitler von den Juden gewollt, das wäre eine Katastrophe!, so Neuwald-Tasbach. „Dieser Judenhass zerstört das Grundgesetz und die Demokratie, und er hat deshalb hier keinen Platz.“ Solche Angriffe auf den Rechtsstaat forderten „schnelle und harte Konsequenzen“.

„Ich wünsche mir, dass wir diese Schatten gemeinsam besiegen können“, schloss sie bewegt.

Der Jurist und Autor Ronen Steinke erstaunte mit drastischen Feststellungen an diesem Abend. So offen und gastlich die Gelsenkirchener Synagoge sei, „sie ist verbarrikadiert, hat schusssichere Verglasung, Kameras und eine Eingangsschleuse - wie an anderen Synagogen auch.“ Es sei eine regelrecht „perverse Form von Normalität“, dass draußen ein Polizeiwagen stehe. „Daran darf man sich nie gewöhnen“, forderte er.

„Ein gastliches Haus: Verbarrikadiert und mit Polizeischutz“

Proteste gegen den Krieg in Gaza, auch gegen die Politik Israels, seien legitim, nicht aber die Attacken gegen jüdische Einrichtungen. Rassismus, nicht zur gegen die „Mini-Minderheit der Juden von zwei Tausendstel der deutschen Bevölkerung“, müsse prinzipiell zurückgewiesen werden.

„Mein Rat: auswandern“, folgerte er überraschend, „allerdings die Antisemiten, nur nicht die Juden.“

Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antisemitismus, stellte klar: „Alle Maßnahmen sind keine rein jüdische Aufgabe“.
Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antisemitismus, stellte klar: „Alle Maßnahmen sind keine rein jüdische Aufgabe“. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Auch Peter Both, Gelsenkirchens Polizeidirektor, erntete zufriedenen Applaus. Es falle ihm nicht schwer, das Verhalten der Polizei kritisch zu sehen. Er selbst trat seinen Dienst übrigens drei Monate nach den Vorfällen an, erlebte sie also nicht direkt. „Ich kann nur noch einmal um Entschuldigung bitten“, sagte er in Richtung der Gemeinde. Sein erster Besuch im Amt habe ihn deshalb hierher geführt.

„Es war eine vollständig falsche und unsensible Beurteilung, ob es zu Protestversammlungen kommen könnte“, erklärte Both, „und es war ein Glück, dass Schalke ein Heimspiel hatte und Polizeikräfte verlagert werden konnten, um die Lage an der Synagoge zu retten.“

Rückblick: Polizeikräfte eigentlich beim Heimspiel

OB Karin Welge hatte die Frage aufgeworfen, „tun wir genug dagegen, und tun wir das Richtige?“. Mit den bisherigen Maßnahmen zur Vorbeugung sei wenig erreicht und vor allem die Öffentlichkeit kaum aufmerksam gemacht worden. „Wir müssen gemeinsam für einen Nährboden für den sozialen Frieden sorgen“, mahnte sie.

Auch Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antisemitismus, erläuterte, in Krisenzeiten seien extremistische Vorfälle häufiger zu beobachten, eine Polarisierung deutlicher. „Allerdings hat das auch zu einer Kollektivhaftung der Juden für die Politik Israels geführt“, beschrieb er. Mit Sorge gab er weiter, dass teils bei Querdenker-Demos die Teilnehmer Judensterne anstecken würden. Der Gesetzgeber betrachte inzwischen Hetze wie etwa Fahnenverbrennungen als strafbar oder strafverschärfend.

Aller Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus, so Klein, „ist aber kein allein jüdische Aufgabe.“