Gelsenkirchen. Nacktheit ohne Scheu: Das lebende Modell steht im Kurs Aktzeichnen an der Kunstschule in Gelsenkirchen im Vordergrund. Ein Kurs-Besuch.

Die wohl berühmtesten Aktmalereien sind griechischen Göttinnen, und damit Frauen gewidmet, bei den Skulpturen drängen sich vielleicht Auguste Rodins Denker oder Michelangelo Buonarrotis Adam auf. So weit geht die Kunstschule an der Neustraße in Gelsenkirchen-Erle nicht, aber der Kursus „Aktzeichnen“ erfreut sich wachsender Beliebtheit. Als Modelle stellen sich übrigens häufiger Männer als Frauen als lebendes Objekt zur Verfügung: Ohne Scheu vor den Blicken fremder Menschen.

Das Modell dieses Abends trägt zunächst Cordhose und kariertes Hemd. Helmut Lorscheid stellt sich den Blicken von insgesamt acht Zeichnerinnen und Zeichnern, und er fordert erst einmal auf: „Ihr müsst „Stopp“ sagen“. Denn noch hängt die Hose in Knöchelhöhe.

Mit schnellen Strichen werden die Proportionen des Aktmodells Helmut Lorscheid auf Papier eingefangen. Die Arbeit am und mit dem lebenden Modell ist eine besondere Herausforderung.
Mit schnellen Strichen werden die Proportionen des Aktmodells Helmut Lorscheid auf Papier eingefangen. Die Arbeit am und mit dem lebenden Modell ist eine besondere Herausforderung. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Der Mann geht den Abend professionell an, und ist dabei auch noch unterhaltsam und gibt Tipps für das Aktzeichnen. „Die Beine sind etwa so lang wie der Oberkörper“, steuert er bei - und verrät, dass bei ihm zwischen Scheitel und Sohle 168 Zentimeter liegen.

Schnelle Posen dienen zum Aufwärmen in Gelsenkirchens Kunstschule

Keine Zehnkämpfer-Figur, kein Sixpack, keine muskelbepackten Arme und Beine: Der schnauzbärtige Bonner mit unverkennbar rheinischem Akzent und Brille ist nicht umsonst im Bildband „perfectum corpus - gereifte Körper“ von Ulrich Huber zu sehen, wie der 60-Jährige auf seiner Foto-Visitenkarte belegt.

Da allerdings trägt er Melone, Gehstock und Aktentasche, und sonst nichts. Zum „Aufwärmen“ für die fünf Frauen und drei Männer im Halbrund der Zeichentische und für ihn dienen schnelle Posen von erst einmal zwei Minuten, die Dozentin Roxane Kressin per Smartphone stoppt. „Das geht bis fünf und zehn Minuten“, kündigt sie an, und alle begeben sich mit Bleistift oder Kohlestift still und hochkonzentriert ans Werk.

Sie legen Tempo an den Tag, schnell müssen neue Blätter her oder Stifte gespitzt werden. Immer wieder wechseln ihre Blicke zwischen Modell und Skizze.

Ein Modell mit Erfahrung auch aus Extremsituationen

Lorscheid liefert aus der Erfahrung bei: „Das Längste waren 90 Minuten, da wollte ich mal wissen, was geht.“ Hart muss es morgens um 7.30 Uhr gewesen sein, „Dat war’n Aktfotos für die Abschlussarbeit einer Kölner Kunstschule auf ‘ner vereisten Wiese“, kramt er aus knapp über 20 Jahren Erfahrung heraus. Hier dagegen komme er fast ins Schwitzen, „Sie können die Heizung ruhig wat runterdreh’n, dat is schon selten“.

Über 20 Jahre Erfahrung als Aktmodell hat der Bonner Helmut Lorscheid. Im Kurs an der Gelsenkirchener Kunstschule herrschen Stille und volle Konzentration.
Über 20 Jahre Erfahrung als Aktmodell hat der Bonner Helmut Lorscheid. Im Kurs an der Gelsenkirchener Kunstschule herrschen Stille und volle Konzentration. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Die Kursleiterin erzählt, dass die Arbeit am und mit dem lebenden Objekt wichtig für die Entwicklung sei. „So verstehen die Teilnehmer Proportionen und Anatomie besser, nehmen das Zeichnen vielleicht ernster als bei einer Vorlage.“ Zur Unterstützung verteilt sie ein Schema, das den menschlichen Körper in insgesamt acht Ebenen unterteilt, um die Abmessungen in etwa zu berücksichtigen.

Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.

Außerdem hilft auch der berühmte Blick über den ausgestreckten Arm mit dem Stift in der Hand, um Proportionen zu übertragen. „Aber Gesicht, Hände und Füße halten zu lange auf“, ist ihre Erfahrung. Allerdings widerspricht ein Kursteilnehmer: „Gerade Hände und Füße finde ich unheimlich faszinierend, ich zeichne besonders gern meine eigenen.“

Orientierung bietet das „Kugel-Würstchen-Modell“

„Versucht, die Form erst einmal einfach in Kreisen oder Strichen zu fassen, baut die Skizzen nach und nach auf und nehmt die Schatten zur Orientierung, etwa unter den Armen“, rät sie und verweist auf die Universal-Püppchen, das „Kugel-Würstchen-Modell“.

Thomas Selms arbeitet plastisch mit Ton, um die Gelegenheit zu nutzen.
Thomas Selms arbeitet plastisch mit Ton, um die Gelegenheit zu nutzen. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Besonders auffällig ist unter den Zeichnenden an diesem Abend Thomas Selms, selbst auch Dozent im Hause. Denn er arbeitet plastisch mit Ton. „Da kämpfe ich besonders mit der Schwerkraft, weil der feuchte Ton sich natürlich nach unten zieht und ich keine Pause machen kann“, verrät er.

„Deshalb armiere ich die Figur mit Streben.“ Er nutzt die Chance, ein lebendiges Modell zu haben, merkt sich eine Pose und arbeitet dann an Details des Körpers, wenn Lorscheid seine Haltung verändert.

Je nach Pose und Position sehen nicht alle alles, aber dafür wechselt Lorscheid eben auch und auf Zuruf. Die Dozentin ist heute hoch zufrieden: „Wir sind dankbar für jeden, der sich das traut, das ist schließlich nichts für jeden.“

Es hätten auch schon einmal Kursleiter aushelfen müssen, „aber dann zumindest leicht bekleidet“. Aktmodelle jeden Geschlechts sind daher im Atelierraum immer willkommen.

Mut könnte ihnen Helmut Lorscheid machen: „Ich hab auch ‘ne verrückte Mütze dabei, möchte schließlich Spaß dabei haben und mache gerne Blödsinn“, sagt er lächelnd, „das darf für mich nicht so sakral sein.

Offene Türen an der Neustraße

Musik- und Kunstschule in Erle stellen sich in dem Gebäude an der Neustraße gemeinsam vor beim Tag der offenen Tür am Sonntag, 5. November, von 14 bis 17 Uhr. Dozentinnen und Dozenten beider Einrichtungen präsentieren dann das Kursprogramm und beraten Interessierte. Begleitet wird die Vorstellung von Kurzkonzerten und kreativen Mitmachaktionen.

Brigitta Blömeke, Vorsitzende des Kunstschule Gelsenkirchen e.V., merkt dazu an, dass für die Vielzahl der unterschiedlichen Angebote inzwischen dringend weitere Künstlerinnen und Künstler zur Leitung der Kurse gesucht würden, „um das alles überhaupt noch zu stemmen“.

Näheres auch auf https://www.kunstschule-gelsenkirchen.de/