Gelsenkirchen. 50 Prozent mehr registrierte Fälle von Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch: Wie die Kinderschutzambulanz Gelsenkirchen aufklären hilft.
Die Hilferufe von Kinderärzten, Erziehern, Lehrkräften und Jugendamt werden immer lauter, weil dem Nachwuchs immer häufiger grundlegende Fähigkeiten fehlen oder Anzeichen von Vernachlässigung vorliegen. In der Kinderschutzambulanz am Bergmannsheil Buer sind das eher „leichte“ Fälle, diejenigen, die gar nicht in die Statistik eingehen. Nur bestätigte Misshandlungen und erfahrene sexualisierte Gewalt bis hin zur Vergewaltigung werden hier auch dokumentiert und registriert. Doch auch diese Taten haben deutlich zugenommen. Rund 100 Kinder und Jugendliche im Jahr, die Gewalt und/oder Missbrauch erlebt haben, diagnostizierte das Team durchschnittlich über Jahre hinweg. Doch nun ist auch diese Zahl explodiert – auf zuletzt 155 betroffene Minderjährige.
„Im ersten Coronajahr hatten wir einen regelrechten Einbruch. Andere Schutzambulanzen meldeten dasselbe“, erinnert sich Dr. Christiane Schmidt-Blecher, Leitende Ärztin der Kinderschutzambulanz und der pädiatrischen Gastroenterologie. Doch allen war klar: Der Einbruch ist kein Anlass zur Freude, sondern zum Gruseln. Weil die Kinder nicht in den Einrichtungen waren, in denen Übergriffe aller Art auffallen könnten.
Rückmeldung ans Jugendamt nur mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten
Die Kinder kommen nie allein in die Ambulanz, um sich Hilfe zu holen. In der Regel ist ein Elternteil dabei. Entweder, weil er oder sie vermutet, dass Partner/Partnerin dem Kind etwas angetan haben, oder weil Kita, Schulsozialarbeiter, Polizei oder auch Jugendamt die Familie aufgefordert hat, das Kind hier wegen Auffälligkeiten untersuchen zu lassen. Mit Gekita kooperiert die Ambulanz. Waren Eltern da, bekommen sie einen Stempel auf dem Zettel, mit dem man sie in die Ambulanz schickte, als Beleg. An das Jugendamt gibt es Rückmeldungen nur, wenn die Eltern zustimmen.
Auffälligkeiten: Das können blaue Flecken unterschiedlichster Ausprägung sein, sichtbare und unsichtbare Verletzungen aller Art – „thermische“ etwa, und damit meint die Ärztin nicht nur das versehentlich vergossene heiße Wasser oder Kaffee, sondern auch andere Verbrennungen etwa durch Zigaretten, bis hin zu versteckten Knochenbrüchen. Auffällig kann aber auch „nur“ das Verhalten sein, als Folge sexualisierter Gewalterfahrung.
Ärztin: „Wir müssen auch prüfen, wie wahr, wie plausibel die Geschichte ist“
„Vor kurzem bin ich trotz meiner Erfahrung doch noch einmal an meine Grenzen gestoßen. Die Polizei hat uns zwei Kleinkinder mit den Erziehungsberechtigten geschickt, die man auf einschlägigen Videos identifiziert hat“, berichtet die erfahrene Kinderschützerin. Das Schlimmste sei gewesen, dass man dem Jungen nichts angemerkt habe, er sich normal verhalten habe, auch körperlich. Mögliche äußerliche Wunden waren inzwischen verheilt, die Folgen der traumatischen Erlebnisse werden wohl erst später sichtbar. Das Kind ging wieder zurück in die Familie.
Der Besuch der Kinderschutzambulanz ist freiwillig, selbst wenn Eltern aufgefordert wurden, sich dort vorzustellen. Und warum kommen Eltern, die selbst ihr Kind geschädigt haben, dann überhaupt? „Es besteht ja auch ein gewisser Druck, wenn man aufgefordert wird. Und das Kind kommt mit dem anderen Elternteil, dem, der den Partner im Verdacht hat. Es kommt auch vor, dass der Partner fälschlich angeklagt wird. Wir müssen immer prüfen, wie plausibel, wie wahr die erzählten Geschichten sind“, erklärt Christiane Schmidt-Blecher. „Und wir entdecken nicht alle. Die Dunkelziffer ist mindestens dreimal so hoch.“
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Zum Auftakt versucht das Team, eine Art normale Krankenhausatmosphäre, etwa mit Abhören, zu schaffen. Dann wird es kompliziert. „Wir dürfen Kinder unter 14 Jahren nur körperlich untersuchen, wenn die Eltern zustimmen. Und wir dürfen nicht die falschen Fragen stellen. Nicht fragen ‘schlägt dich deine Mama?’. Das würde vor Gericht nicht anerkannt. Wir sprechen vorsichtig, Elternteil und Kind getrennt“, beschreibt die Ärztin das Vorgehen. Oft bringen Eltern ein hohes Aggressionspotenzial mit. Manchmal sind Drogen, Alkohol ein Problem, andere haben unbewusst einen schlagenden Partner gewählt, weil der Vater oder die Mutter das auch getan haben. „Gewalt gegen Kinder gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Die Form ist nur unterschiedlich“, betont die Ärztin. Auch Liebesentzug und Missachtung seien Gewalt, die schwere Folgen haben kann.
Auch Mütter können Täterinnen sein – auch bei Missbrauch
Und: Auch Frauen können Täterinnen sein, bei Misshandlung ebenso wie bei sexuellem Missbrauch, räumt die Ärztin mit einem Tabu auf. Missbrauch durch Mütter falle nur selten auf, weil Jungs noch weniger in der Lage seien, darüber zu reden. „Deshalb blieb der Missbrauch in der katholischen Kirche so lange unentdeckt“, vermutet Schmidt-Blecher.
Schwierig ist die Befragung für die Mediziner nicht nur, weil es um sensible Themen geht. Das Ergebnis muss auch dokumentiert werden. Und zwar so, dass Mediziner es verstehen, es rechtssicher ist und auch das Jugendamt damit etwas anfangen an. Christiane Schmidt-Blecher hat das gelernt und auch Pflegepersonal und Assistenzärzte werden in Buer für die Arbeit in der Kinderschutzambulanz geschult. Ein eigenes Team gibt es nämlich nicht. Das Notfallteam der Kinderklinik übernimmt auch das, da es für die Kinderschutzambulanz kein eigenes Personal-Budget gibt. Eine halbe Extrastelle dafür dauerhaft im Haus einrichten zu können – das ist Christiane Schmidt-Blechers erklärtes Ziel.
Hoffnung auf bessere Finanzierung für Kinderschutzambulanz
Etwas finanzielle Unterstützung haben Kinderschutzambulanzen in den letzten fünf Jahren durch ein Innovationsprojekt mit Krankenkassen und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte bekommen, an dem neun Kinderkliniken der Region teilgenommen haben. Nur Buer und Datteln hatten bereits ein etabliertes Angebot, die anderen bauten mit dem Projekt eine solche auf. Am Konzept dafür hat die Bueraner Leiterin mitgeschrieben. Als ihr früherer Chef sie einst fragte, ob sie nicht eine Anlaufstelle für Kinderschutz betreuen könne, das sei doch so ein Frauending, wie Frauenhäuser, da hat die Chirurgin ja gesagt. Weil es wichtig ist. Und es wird immer wichtiger.