Gelsenkirchen-Bismarck. Die Leiche eines Gelsenkircheners lag lange in einer Wohnung. Folge: Mücken, Maden, Gestank. Die Nachbarin sagt, ihr Alarm sei ignoriert worden.
Es ist das traurige Ende eines alleinlebenden Menschen: Gestorben in den eigenen vier Wänden, bleibt der Todesfall lange Zeit unentdeckt. Erst beißender Gestank und Heerscharen von Ungeziefer liefern untrügliche Hinweise auf eine verwesende Leiche. So geschehen jetzt in Gelsenkirchen. Für die Nachbarn beginnt damit eine lange Leidenszeit. Denn bis alle Überreste beseitigt sind, kann es mitunter dauern – und zwar lange.
Gelsenkirchener Seniorin (68) klagt über „bestialischen Gestank seit drei Wochen“
Für Karin Alshut ist das Wohnen derzeit „eine Zumutung“. Die Wohnung der 68-Jährigen liegt direkt neben der des Toten an der Bickernstraße in Gelsenkirchen-Bismarck. Ihren Nachbarn beschreibt die Mieterin als „hageren Mann, der sehr zurückgezogen gelebt hat“. Unzählige Fliegen, Maden oder verpuppte Larven sind bei ihr zu finden – im Schlaf- und Wohnzimmer, in der Diele, im Bad, praktisch überall. „Hier kann man nicht mehr wohnen“, sagt die Seniorin. Sie suche bereits intensiv nach einer neuen Bleibe.
Der Geruch muss fürchterlich gewesen sein, die Leiche vermutlich längere Zeit in der kleinen Wohnung gelegen haben – ähnlich wie bei dem tragischen Fall eines damals 58-Jährigen, der im Juli 2015 acht Tage lang tot im Personenaufzug der Evangelischen Kliniken an der Munckelstraße gelegen hatte.
Nach Angaben von Polizeisprecher Thomas Nowaczyk ist der 66-Jährige „zum letzten Mal am 15. Mai lebend gesehen worden“. Am 20. Juni, also vor gut einer Woche, waren Polizei und Feuerwehr vor Ort, wurde die Leiche geborgen. Sie lag im Flur der Wohnung, nach Behördenangaben handele es sich um einen „natürlichen Todesfall“. Demnach könnte der Verstorbene gut einen Monat dort unentdeckt geblieben sein. Alshut berichtet, dass es „im Haus drei Wochen lang bestialisch gestunken hat“.
Die Hitzetage der vergangenen Wochen haben die Verwesung sicher beschleunigt. Der bekannte Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke hatte anlässlich des Todes im Fahrstuhl den Verwesungsprozess unter feucht-warmen Bedingungen im Sommer so erklärt: „Im Prinzip verflüssigt sich das Körperinnere zunehmend, übrig bleibt manchmal ein sackartiges Behältnis, nur zusammengehalten und stabilisiert von Haut und Knochen.“ Wenn es feuchter sei, könne aber auch alles bis auf die Knochen aufgelöst sein.
Was Karin Alshut beklagt und nicht versteht, ist, dass die Wohnung ihres verstorbenen Nachbarn noch immer nicht gereinigt worden ist. Dazu ihre vier Wände und die ihrer betroffenen Nachbarn. Die Gelsenkirchenerin sagt, sein Leichenwasser sei in alle Decken und Wände gezogen, und mit ihm das ganze Ungeziefer – über Spalten und Ritzen oder Fenster und Türen wie Alshut vermutet.
Zwar verstopfen jetzt alte Prospekte den Spalt unter der Eingangstür zur Wohnung des Verstorbenen, trotzdem sind Tausende Schmeißfliegen und Maden in die benachbarten Räume eingedrungen. Die Einsatzkräfte, die die sterblichen Überreste aus der Wohnung geborgen haben, haben zudem nebenan ein Fenster auf Kipp stehenlassen, ein weiteres ist komplett geöffnet.
Unterschiedliche Angaben über Hinweise an Behörden und die GGW als Vermieterin
Die 68-Jährige will bei Stadt, Polizei und GGW als Vermieterin mehrfach und früh Alarm geschlagen haben, telefonisch und per Mail. Mit dem Hinweis auf nicht „korrekten entsorgten Abfall“ sei sie abgespeist worden, bzw. an die Wohnungsgesellschaft verwiesen worden – „Sache des Vermieters“, wie Stadtsprecher Martin Schulmann bestätigt. Nicht alle Belege findet die ältere Dame dazu auf ihrem Handy, aber einige, augenscheinlich den erneuten Anruf bei der GGW am 21. Juni sowie die schriftliche Nachfrage nach der Reinigung am 27. Juni.
Die Polizei hat zwei Einsätze verzeichnet, am 18. und am 20. Juni, Letzterer ist der Tag der Wohnungsöffnung von Amts wegen. Am 18. Juni sei es aber um Ungeziefer im Haus gegangen und den Verdacht, jemand könnte die Tiere absichtlich in den Hausflur gelegt haben. „Hinweise auf einen Todesfall lagen der Polizei zu diesem Zeitpunkt nicht vor“, sagt Sprecher Thomas Nowaczyk.
GGW-Sprecherin Janin Meyer-Simon erklärt, „dass die GGW hierzu im regelmäßigen Austausch mit der Mieterin gestanden“ habe. Die erste Beschwerde sei am 19. Juni eingegangen. Ein direkt entsandter Mitarbeiter habe vor Ort aber nichts Ungewöhnliches feststellen können.
„In der vergangenen Woche wurde der Einsatz eines Kammerjägers von der GGW beauftragt“, so die Sprecherin weiter. „Im Hausflur und in den Wohnungen der Mieter habe der Kammerjäger keinen Schädlingsbefall feststellen können. Letzte Woche Donnerstag (22. Juni, A. d. Red.) ist eine Reinigung im Hausflur erfolgt.“
Als die WAZ am Dienstag (27. Juni) vor Ort ist, liegen aber Dutzende tote Fliegen im Treppenhaus des alten Mehrfamilienhauses, in der Wohnung von Karin Alshut schwirren die schwarzen Plagegeister auch rege herum, auf dem Boden liegen etliche verpuppte Larven.
Versprechen: Spezialfirma reinigt Toten-Wohnung in Gelsenkirchen am Donnerstag
Das Problem bei solchen Fällen ist: Generell eine Wohnung zu betreten, ist ohne Zustimmung des Mieters nicht möglich. Nur Polizei oder Feuerwehr dürfen im Verdachtsfall eine Wohnungstür aufbrechen. Und eine Reinigung kann nur erfolgen, wenn die Polizei die zunächst als Tatort eingestufte Fundstelle nebst Schlüsseln wieder freigegeben hat.
Das ist laut Meyer-Simon Ende der vergangenen Woche der Fall gewesen. Die GGW-Sprecherin kann Alshut am Ende eine gute Nachricht überbringen: „Am Donnerstag (29. Juni) kann die Reinigung durch eine Spezialfirma erfolgen“. Sollten weitere Mieter betroffen sein, werde die GGW auch bei ihnen eine Reinigung ermöglichen.
Am Donnerstag haben tatsächlich zwei Männer einer Spezialreinigungsfirma in Schutzanzügen mit ihrer Arbeit in der Wohnung des Verstorbenen begonnen.
In Offenbach hat es einen Fall gegeben, da dauerte die Freigabe der Wohnung über ein Jahr. Auch hier beschwerten sich Nachbarn im Haus über Gestank, der aus den Räumen des Verstorbenen drang. 2020 mussten Mieter in Gelsenkirchen-Feldmark drei Wochen lang Leichengeruch ertragen, ehe die Reinigung möglich war. Vor Jahren stießen Einsatzkräfte in der Emscherstadt auf einen Toten, der laut Verwaltung „sogar über Jahre in seiner Wohnung gelegen haben muss“ – der Mann war oft auf Reisen.
Ob eine Reinigung reicht, daran hat Karin Alshut Zweifel. Als die Leiche ihres Nachbarn geborgen wurde, sei ihr gesagt worden, „dass die Wohnung kernsaniert werden müsse“. Wegen der langen Liegezeit. Wenn eine Leiche auch nur ein bis zwei Wochen in einer Wohnung gelegen hat, kann man in der gesamten Wohnung so gut wie nichts mehr wiederverwenden. Das berichtet ein Tatortreiniger. Möbel, Tapeten, Teppiche – alles ist dann hin. Der Leichengeruch ziehe in jede Ritze. Lediglich Gegenstände aus Metall und Glas ließen sich reinigen. „Allerdings lässt sich der Geruch auch überdecken, chemisch einschliessen oder auflösen“, wie der Kriminalbiologe Mark Benecke hinzufügt.